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Inhalt


Zeitung gegen den Krieg, Nr. 54

Ingar Solty: Warum, darum und wie rum Sozialismus?

Der Hammer und die Porzellanvase. Konservative über den Ukrainekrieg

Interview mit General a. D. Harald Kujat

Michael Schneider: Der böse Russe...

Michael von Schulenburg: Den Frieden, nicht den Krieg gewinnen!

Gegenstandpunkt: Zehn Monate Ukrainekrieg

Erich Vad: Was sind die Kriegsziele?

Peter Wahl: Der Ukraine-Krieg
GegenStandpunkt: Der Krieg in der Ukraine und seine Vorgeschichte

Winfried Wolf: 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine

Michael Hudson: Die Sanktionen des Westens sind großartig für Russland

Muharrem Açıkgöz: Die Permanenz der Kritischen Theorie. Eine Bestandsaufnahme der zweiten Generation

Lühr Henken: Die Explosion deutscher Militärausgaben - wofür?
Max Horkheimer: Der Wolkenkratzer
Andreas Zumach: Von Trump zu Biden - Fortschritt oder "Weiter, wie gehabt"?
Andreas Zumach: Europa droht hochgefährlicher atomarer Rüstungswettlauf
Karl Barth: Predigt über Hebräer 4,9-10 Über das Sterben
Hans-Georg Geyer: Elemente der kritischen Theorie Max Horkheimers

 

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Ingar Solty: Warum darum und wie rum Sozialismus?
Solty Warum darum und wie rum Sozialismu
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Der Hammer und die Porzellanvase. Konservative über den Ukrainekrieg
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Interview mit General a. D. Harald Kujat
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Michael Schneider: Der „böse Russe“, die deutsche Geschichtsvergessenheit und die Blindheit der Berliner Außenpolitik
der-boese-russe-die-deutsche-geschichtsv
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In der Ukraine muss es darum gehen, den Frieden und nicht den Krieg zu gewinnen
Michael von Schulenburg.pdf
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Gegenstandpunkt: Zehn Monate Ukrainekrieg
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Erich Vad: Was sind die Kriegsziele?
Erich Vad Was sind die Kriegsziele EMMA.
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Peter Wahl: Der Ukraine-Krieg
Peter Wahl Der Ukraine-Krieg.pdf
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GegenStandpunkt: Der Krieg in der Ukraine und seine Vorgeschichte
Weiteres Material zu Thema:
https://de.gegenstandpunkt.com
Ukrainekrieg und seine Vorgeschichte.pdf
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Winfried Wolf: 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine
Weiteres Matarial zum Thema:
https://www.lunapark21.net/inhalt-heft-58-weltumordnungen/
https://www.lunapark21.net/category/ruestungkrieg/
2022-03-23-Ukraine-Krieg-THESEN-WW06b.pd
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»Die Sanktionen des Westens sind großartig für Russland«
Über den Krieg in der Ukraine, Interessen der Finanzoligarchie und China als Hauptrivalen der USA. Ein Gespräch mit Michael Hudson (junge welt 6.8.22)
Die Sanktionen des Westens sind großarti
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Muharrem Açıkgöz: Die Permanenz der Kritischen Theorie. Eine Bestandsaufnahme der zweiten Generation (1)
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Muharrem Açıkgöz: Die Permanenz der Kritischen Theorie. Eine Bestandsaufnahme der zweiten Generation (2)
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Muharrem Açıkgöz: Die Permanenz der Kritischen Theorie. Eine Bestandsaufnahme der zweiten Generation (3)
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Muharrem Açıkgöz: Die Permanenz der Kritischen Theorie. Eine Bestandsaufnahme der zweiten Generation (4)
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Lühr Henken

 

 Die Explosion deutscher Militärausgaben - wofür?1

 

Vortrag bei den Naturfreunden Berlin, November 2020

 

Bis zum Ukrainekonflikt 2014 hatte sich die Bundesregierung bezüglich einer Erhöhung des Rüstungshaushalts zurückgehalten.2 Jedoch, so war es dem SPIEGEL zu entnehmen: „war (es) die Bundesregierung, die im Nato-Rat mehrere Vorschläge machte, um die Mitglieder zu höheren Militärausgaben zu animieren.“3 - Also nicht Obama und schon gar nicht Trump. Von letzterem war zu der Zeit noch keine Rede. Hier kamen nationale deutsche Ambitionen zum Ausdruck. Der NATO-Gipfel in Wales 2014 beschloss, dass sich die Mitgliedstaaten bis 2024 auf eine Erhöhung der Militärausgaben zubewegen sollen, die zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt/BIP) entsprechen. Damals lag der Anteil der NATO-Mitglieder ohne die USA bei 1,43, in Deutschland bei 1,19 Prozent. 4

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 1 Vortrag im Rahmen der Reihe „Frieden konkret“ der NaturFreunde Berlin und der NaturFreunde Hamburg, Videokonferenz am 12.11.2020

 2 Denn seit 1990 hielten sich Erhöhungen und Senkungen des Bundeswehrhaushalts in etwa die Waage: Aus Zahlen von SIPRI auf der Basis des Dollarkurses von 2016, ergibt sich zwischen 1998 und 2017 eine minimale Schwankung der Bundeswehrausgaben von höchstens 12 Prozent zwischen 43 Mrd. (Spitzen:1999 und 2017) und etwa 38,5 Mrd. Dollar (Täler: 2006, 2007, 2013 , 2014)

 3 Vgl. DER SPIEGEL 25.3.17, S. 30

 4 Die Anteile am BIP wurden auf Basis der Preise von 2015 berechnet, so dass die Inflation nicht berücksichtigt ist. NATO, Defence Expenditure of NATO Countries (2013 – 2020) 21.10.2020, 16 Seiten, Tabelle 3, S. 8, https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2020/10/pdf/pr-2020-104-en.pdf

 

Klar ist, die NATO-Aufrüstung richtet sich gegen Russland. Anknüpfend an die Zeit des Kalten Krieges wird den Russen ständig eine Angriffsabsicht auf NATO-Gebiet unterstellt, gegen die wir uns hier zu verteidigen hätten. Das ist ein Standardargument, das kaum noch jemand hinterfragt, und insofern eigenartig, weil Fakten offen auf dem Tisch liegen, die diese Behauptung als absurd entlarven.

 

Die Kräfteverhältnisse

 Schauen wir die militärischen Kräfteverhältnisse im konventionellen Bereich an. Dort herrscht ein immenses Ungleichgewicht zugunsten der NATO5 im Vergleich zu der 2002 gegründeten östlichen „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, kurz OVKS. Diese hat folgende sechs Mitglieder: Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und Weißrussland.

 

Werfen wir einen Blick auf die schweren konventionellen Waffen beider Seiten. Die NATO hält das Doppelte an Kampfpanzern im aktiven Dienst, verfügt über fast 90 Prozent mehr an gepanzerten Kampffahrzeugen, hat das 3,8fache an Kampfflugzeugen und das 5,3fache an Kampfhelikoptern aktiviert.6 Und die NATO hat das 7,7fache an hochseegängigen Überwasserkampfschiffen und das 2,7fache an taktischen U-Booten.7

 

Auch ein Blick auf die Militärausgaben zeigt ein krasses Ungleichgewicht zugunsten der NATO. So ermittelte SIPRI, das internationale

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 5 Vgl. auch: Welt am Abgrund? Deutsche Welle, 8.2.18, http://www.dw.com/ de/welt-am-abgrund-der-münchner-sicherheitsbericht/a-42482455

 6 Berücksichtigt man auch die eingelagerten Kampfpanzer und Artilleriesysteme von NATO und OVKS, so halten sich diese jeweils in etwa die Waage.

 7 International Institute for Strategic Studies, The Military Balance 2019, 518 Seiten. Berechnungen des Autors

 

Friedensforschungsinstitut in Stockholm, für 2019 einen Wert für Russlands Militärausgaben von 65 Milliarden Dollar, der Wert für die NATO addierte sich damals auf 1.035 Milliarden Dollar – das ist fast das 16-fache. Für 2020 schätzt die NATO die Ausgabensumme ihrer 30 Mitglieder auf zusammen 1.092,5 Mrd. US-Dollar8. Auch wirtschaftlich ist der Unterschied sehr gravierend: fast 24 zu 1 zu Gunsten der NATO-Länder9. Die NATO verfügte nach eigenen Angaben 2019 über 3,245 Millionen aktive Soldatinnen und Soldaten10, davon 1,912 Millionen in Europa11. Russland hat laut Jahresabrüstungsbericht 2019 der Bundesregierung seine Soldat*innenzahl von 2018 auf 2019 reduziert: von 900.000 auf 728.00012 – mithin um fast ein Viertel. Das bedeutet eine mehr als vierfache NATO-Überlegenheit.

 

Was bedeuten zwei Prozent des BIP für unser Land?

 Kommen wir zur deutschen Politik. Die Bundesregierung richtet ihre Aufrüstungsanstrengungen auf Großmachtkonkurrenz aus. Sie nennt das Landes- und Bündnisverteidigung und hat dabei vor allem Russland, zunehmend aber auch China im Visier. Sie fährt ihren Aufrüstungskurs, den sie aus dem Zwei-Prozent-Ziel-Beschluss der NATO-Regierungschefs 2014 ableitet, zweigleisig. Indem sie zum einen die

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 8 Ein Zuwachs von 5,9 Prozent gegenüber 2019. Defence Expenditure of NATO Countries (2013 – 2020) Tabelle 2, S. 7

 9 Genau das 23,896 fache (2017). Die Summe der BIPs der NATO-Staaten ist 37.709 Mrd. USD. Russlands BIP beläuft sich auf 1.578 Mrd. USD. Fischer Weltalmanach 2019. Berechnungen des Autors.

 10 Defence Expenditure of NATO Countries (2013 – 2020) Tabelle 7, S. 12 

 11 1,837 Mio. kommen aus europäischen NATO-Staaten, ca. 75.800 aus den USA.

 12 Bundesregierung, Jahresabrüstungsbericht 2019, 30.4.20, 159 Seiten, S. 108 und Tabelle 1, S. 136, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2337956/72907bb7d44eb603a2edd1ae88363f02/jab2019-data.pdf

 

Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO betont, stellt sie zugleich Weichen für eine militärische Unabhängigkeit der EU von den USA. (Fern-)ziel ist die Schaffung einer europäischen Armee.

 

Ich zähle einige Marksteine der Ausgabenentwicklung der letzten Jahre auf. 2015 gab die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bekannt, dass bis 2030 insgesamt 130 Milliarden Euro benötigt würden, um neue Ausrüstungen und Waffen zu kaufen.13 2018 kündigte sie bei der NATO an, dass die Regierung sich verpflichte, bis 2024 1,5 Prozent des BIP für die Bundeswehr ausgeben zu wollen. Das wären dann 62,5 Milliarden Euro nach Kriterien der NATO. 14

 

Ihre Nachfolgerin im Amt, Annegret Kramp-Karrenbauer („AKK“), gab im Oktober 2019 das Zieljahr, in dem das Zwei-Prozent-Ziel erreicht werden soll, mit 2031 an.15 Der damalige Wehrbeauftrage des Bundestages Bartels sprach 2019 bei der Aufrüstung der Bundeswehr von einem 12-Jahres-Plan.16

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13 FAZ 20.2.18

14 Spiegel online, 14.5.18, „etwa 58 Milliarden davon würden ihrem Haus zufließen, vier Milliarden gingen in andere Ressorts.“ Wenn (2025) 1,5 Prozent 62,5 Milliarden Euro bedeuten, dann errechnet sich daraus für das BIP des Jahres 2025 ein Wert von 4.166 Milliarden Euro, den die Bundesregierung zu Grundelegt. Die Zahl stammt von vor der Corona-Pandemie. 15 11.10.19, https://www.sueddeutsche.de/politik/nato-kramp-karrenbauer-zwei-prozent-ziel-bis-2031-erreichen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-191011-99-262774

16 27.7.2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/wehrbeauftragter-hans-pe-ter-bartels-niemand-plant-eine-zwei-prozent-bundeswehr/24845148.html

 

Wie hoch sind die deutschen Militärausgaben derzeit? Die NATO hat für 2020 51,5 Mrd. Euro (+ 4,6 Mrd. Euro oder + 9,8 Prozent gegenüber 2019) errechnet.17 Der Militäranteil am BIP wuchs von 1,26 Prozent (2018), über 1,36 Prozent (2019) auf 1,57 Prozent (2020), liegt demnach also schon über dem von von der Leyen erst für 2024 anvisierten Wert von 1,5 Prozent am BIP. Die FAZ vermerkt dazu: „Allerdings ist der Wert vor allem deshalb gestiegen, weil die Coronavirus-Pandemie zu einem Rückgang der Wirtschaftskraft geführt hat. Vor der Krise war mit einer Quote von 1,42 Prozent gerechnet worden.“18

 

Interessant ist die Frage: Wie hoch sind die deutschen Militärausgaben, wenn sie 2031 zwei Prozent des BIP betragen sollen? Um die Frage zu beantworten, muss man wissen, wie hoch das BIP im Jahr 2031 sein wird. Augenblicklich stecken wir mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie massiv verstärkt wird, was eine Prognose erschwert. Aber es gibt Abschätzungen aus der Zeit vor der Krise und es gibt Abschätzungen über die Dauer der Krise, so dass man für die Zukunft eine Prognose wagen kann.

 

Vor der Krise beliefen sich die jährlichen durchschnittlichen Steigerungen des deutschen BIP der Jahre 2013 bis 2023 auf etwa 111 Mrd. Euro pro Jahr19, für 2025 ging die Bundesregierung von einem BIP von 4.166 Mrd. Euro aus, so dass eine Fortschreibung des BIP-Zuwachses bis 2031 ein BIP von 4.830 Mrd. Euro zur Folge gehabt hätte. Davon

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 17 Defence Expenditure of NATO Countries (2013 – 2020) Tabelle 1, S. 6

 18 FAZ 22.10.20

 19 BIP Deutschlands 2013: 2.826,2 Mrd. Euro; 2018: 3.386 Mrd. Euro, 2023: 3.942 Mrd. Euro, 2025: 4.166 Mrd. (vgl. Fußnote 13) Das heißt durchschnittlich wuchs das deutsche BIP um 111 Mrd. Euro p.a..

 

zwei Prozent hätten 2031 annähernd 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ergeben.

 

Bei der Dauer der aktuellen Krise hat sich die Bundesregierung vorläufig darauf festgelegt, dass im ersten Halbjahr 2022 das Vorkrisenniveau wieder erreicht sein wird. 20 Das heißt, die Krise dauert etwa zweieinhalb Jahre. Somit beträgt die Verschiebung etwa auch solange - zweieinhalb Jahre.

 

Legen wir die Annahme aus dem aktuellen Bundesfinanzplan – der die Folgen der schweren Rezession berücksichtigt - zugrunde, geht die Bundesregierung 2024 von einem BIP von 3.830,3 Mrd. Euro21 aus. Nehmen wir an, das BIP steigt wieder wie vor der Krise (+111 Mrd. Euro p.a.), wird sich das BIP im Zieljahr 2031 auf ca. 4.600 Mrd. Euro belaufen. Zwei Prozent davon sind 92 Mrd. Euro, die die Bundesregierung dann bei der NATO abrechnet. Etwa vier Jahre später würden zwei Prozent des BIP dann 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr bedeuten. Gemessen an den Ausgaben für 2020 in Höhe von 51,5 Mrd. Euro bedeutet das in den nächsten 12 bis 15 Jahren eine Verdopplung der jährlichen deutschen Militärausgaben. Das wäre eine neue Dimension. Vorausgesetzt Großbritannien und Frankreich würden ebenfalls zwei Prozent ihres jeweiligen BIPs für ihr Militär ausgeben, liegen die deutschen Ausgaben ca. 22 Prozent über denen Großbritanniens und ca. 45 Prozent über denen Frankreichs.22 Damit wird

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 20 Die Bundesregierung, Finanzplan des Bundes 2020 bis 2024, Drucksache

 19/22601, 9.10.20, 80 Seiten, S. 5, https://dserver.bundestag.de/

 btd/19/226/1922601.pdf, im Weiteren: Finanzplan des Bundes bis 2024

 21 A.a.O., Tabelle 1, S. 7

 22 Zugrunde gelegt sind hier die von der NATO für 2020 geschätzten BIP-Werte

 (in Preisen von 2015) für Deutschland (3.364 Mrd. Dollar), Großbritannien (2.760 Mrd. Dollar), Frankreich (2.311 Mrd. Dollar) Defence Expenditure of NATO Countries (2013 – 2020) Tabelle 5, S. 10

 

Deutschland zur stärksten Militärmacht in Europa und in der Europäischen Union.

 

In der deutschen Öffentlichkeit wird selten mit den Zahlen operiert, wie sie die Regierung bei der NATO angibt, sondern mit denen des deutschen Verteidigungshaushalts (Einzelplan 14). Letztere sind geringer als die NATO-Zahlen, worin sicherheitsrelevante Gelder berücksichtigt werden, die in anderen Titeln des Bundeshaushalts untergebracht sind. Der Einzelplan 14 für die Bundeswehr sieht 45,2 Mrd. Euro im Jahr 2020 vor und liegt damit um 5,3 Mrd. Euro unter dem Wert nach NATO-Kriterien, wobei letzterer für die Berechnung des Anteils am BIP verwendet wird.

 

Für das Jahr 2021 plant die Regierung, den Bundeswehretat von 45,2 auf 46,8 Mrd. Euro zu erhöhen (also um 1,6 Mrd. oder +3,5 Prozent)23. Es ist die siebte Erhöhung in Folge seit 2014.24 Somit müssen wir für 2021 von etwa 53 Mrd. Euro für die Bundeswehr ausgehen.

 

Die Frage stellt sich: Wofür brauchen die so viel Geld?

 

Finanziert werden soll damit die umfassende Aufrüstung von Heer, Marine und Luftwaffe. Kramp-Karrenbauer sagte dazu Mitte März konkret: „Im Schnitt bekommt die Bundeswehr jede Woche einen

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 23 Darin ist ein Betrag von 1,2 Mrd. Euro aus dem „Konjunktur- und Zukunftspaket“ enthalten, mit denen in Pandemiezeiten vorgezogene Projekte finanziert werden.

 24 Nach Nato-Kriterien 2014: 37,45 Mrd. Euro, 2020: 51,54 Mrd. Euro. (+37,6 Prozent)

 

neuen Panzer, jeden Monat ein neues Flugzeug und jedes Jahr ein neues Schiff.“25

 

Schauen wir uns die Rüstungsmaßnahmen bei Heer, Marine und Luftwaffe an:

 

Das deutsche Heer: Schlagkraft verdoppeln

 Bis 2031 soll das Heer von heute sechseinhalb Brigaden, die nur zum Teil ausgerüstet sind, nämlich durchschnittlich zu 70 Prozent, auf zehn voll ausgerüstete Brigaden (zu 100 Prozent ausgerüstet) anwachsen. Das bedeutet mindestens eine Verdopplung der Heeresschlagkraft. Dafür werden unter anderem zunächst 350 Schützenpanzer PUMA angeschafft, deren Preis sich auf 6 Milliarden Euro verdoppeln wird26. Schon vor dieser Kostenexplosion waren sie die teuersten Schützenpanzer der Welt. Weitere PUMA sind geplant, die wahrscheinlich 3 bis 4 Milliarden Euro kosten werden. Zudem soll die Zahlder Radpanzer und der Artilleriesysteme in etwa verfünffacht werden.

 

Die deutsche Marine – hochgerüstet nicht nur in die Ostsee

 Kramp-Karrenbauer drängt auf die Aufrüstung der Marine gegenRussland: in der Ostsee, dem Nordatlantik und dem Schwarzen Meer.

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 25 Rede Annegret Kramp-Karrenbauers anlässlich des Parlamentarischen Frühstücks der Deutschen Maritimen Akademie, 12.3.20, 8 Seiten, S.7 https://www.bmvg.de/resource/blob/228940/8ed9503058718376a774edcc3ae6a484/20200324-down-

 load-rede-akk-bei-maritime-akademie-data.pdf, im Weiteren: Kramp-Karren-bauer

 26 19.7.19, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-kostenex-plosion-beim-schuetzenpanzer-puma-a-1278052.html

 

Rostock wird ab 2025 Heimat eines neuen Führungsstabes, dem Baltic Maritime Component Command“ (BMCC). Das BMCC soll „der NATO als maritimes Führungskommando für Operationen an der Nordflanke des Bündnisses – aber auch in anderen Regionen – zum Zwecke der Landes- und Bündnisverteidigung angeboten werden.“27 Deutschland als stärkste NATO- und EU-Marine der Ostsee-Anrainer hat die Führung inne.

 

Schon heute verfügen die Flotten der NATO-Anrainer der Ostsee über mehr Kriegsschiffe und U-Boote als die russische Baltische Flotte, mit ihrem Hauptquartier in Kaliningrad. Neun NATO-U-Boote stehen dort einem russischen U-Boot gegenüber, die NATO-Länder haben 10 Zerstörer, Fregatten und hochseegängige Korvetten, Russland sieben.Bei Patrouillenbooten ist das Verhältnis allerdings 26 zu 29 zugunsten Russlands. Im Kriegsfall jedoch addieren sich die Kriegsmarinen Norwegens, Schwedens und Finnlands28 zu diesen NATO-Kräften, so dass diese über 20 U-Boote, 19 Zerstörer, Fregatten und Korvetten sowie

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 27 22.1.19, http://www.bundeswehr-journal.de/2019/feierliche-indienststellung-des-nationalen-stabes-deu-marfor/

 28 Schweden und Finnland steigern die Rüstungsausgaben generell in hohemMaße. Ihre Begründungen: Schutz vor russischer Aggression. Nach Aussagendes schwedischen Verteidigungsministers könnte Schweden in den kommendenvier Jahren seine Militärausgaben um 40 Prozent steigern. Sie würden so von2014 bis 2025 um 85 Prozent wachsen. Ein Parlamentsbeschluss steht noch aus.(16.10.20, https://deutsch.rt.com/europa/107865-wegen-russischer-aggres-sion-schwedischer-verteidigungsminister/). Finnland hat sich zum Ankauf US-amerikanischer Kampfjets entschieden: 64 F-35A für 12,5 Mrd. USD, 58 F/A18„Super Hornet“ und 14 EA-18 „Growler“ für 14,7 Mrd. USD. (13.10.20,http://www.imi-online.de/2020/10/13/finnland-us-kampfflugzeuge/) Die Ge-

 samtsumme von 27,2 Mrd. USD bildet fast das 7fache der gesamten Militärausgaben Finnlands (knapp 4 Mrd. USA 2019).

 

62 Patrouillenboote verfügen. Addieren wir alle Einheiten, ergibt sich ein Verhältnis von 101 zu 37 zum Nachteil Russlands.29

 

Russland als „zentrale militärische Herausforderung“30 in Bezug auf Marineaufgaben zu bezeichnen, wie es AKK tut, ist daher nicht belegbar.

 

 Das hält die Regierung aber nicht davon ab, die Marine massiv aufzurüsten. Sie soll vier Mehrzweckkampfschiffe (MKS 180) für 6 Milliarden Euro31 erhalten - das kostspieligste Projekt der Deutschen Marine seit 1945 -, sowie zwei U-Boote für über eine Milliarde Euro. Zusätzlich zu den schon vorhandenen fünf Korvetten sind fünf weitere im Bau (Kosten 2,35 Milliarden Euro). Sie sind hochseegängig, wegen ihres geringen Tiefgangs für Randmeere wie die Ostsee dort aber bestens geeignet. Ihre Tarnkappenbauweise lässt sie schwer orten und ihre wenig störanfälligen vier Marschflugkörper RBS 15 Mk 3 könnennicht nur Schiffe, sondern auch Ziele an Land mit Abweichungen von 1 bis 2 m genau treffen – und das aus Entfernungen von über 200 km. Parallel zur Herstellung der fünf Korvetten wurden für die Jahre 2022 bis 2026 160 dieser Marschflugkörper RBS 15 Mk 3 bestellt - 32 eine enorme Schlagkraft gegenüber Russland.

 

Die Indienststellung der beiden letzten der vier Fregatten des Typs F 125 - für den weltweiten Dauereinsatz - wird für 2021 erwartet. Die vier Fregatten schlagen mit knapp 3,3 Mrd. Euro zu Buche.

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 29 International Institute for Strategic Studies (IISS), London, The Military Balance 2020, Berechnungen des Autors

 30 Kramp-Karrenbauer

 31 5.6.20, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ruestungspolitik-neue-kriegsschiffe-fuer-die-bundeswehr-werden-noch-teurer/25890616.html

 32 Europäische Sicherheit & Technik, (ESuT) Heft Oktober 2020, S. 54

 

Die deutsche Luftwaffe: neue Atombomber

  Die größten Beschaffungen der Bundeswehr in den nächsten Jahrzehnten sind für die Luftwaffe vorgesehen. 33 alte Eurofighter der Tranche 1 und 85 Tornados, somit insgesamt 118 Kampfflugzeuge, sollen im kommenden Jahrzehnt durch bis zu 138 neue Kampfflugzeuge „ersetzt“ werden. Damit wird über die Hälfte des Kampfflugzeugbestandes erneuert. Das wird in der Anschaffung schätzungsweise 25 Milliarden Euro verschlingen.33 Die Lebenswegkosten, also die Gesamtkosten für Anschaffung, Betrieb, Ersatzteile, Modernisierung etc., über 40 Jahre werden zusammen geschätzt 100 Milliarden Euro betragen.

 

 Die 138 neuen Flieger setzen sich aus vier Flugzeugtypen zusammen. Als „Ersatz“ für die 33 Eurofighter (Tranche 1) sollen 38 neue Eurofighter angeschafft werden. Der Bundestag hat Anfang November 2020 für ihren Bau 5,6 Mrd. Euro genehmigt.34 „40 weitere Eurofighter mit Kampfwertsteigerung sollen die Jagdbomber-Fähigkeiten des Tornados ersetzen. Und dann könnten noch 15 Eurofighter gekauft

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 33 Preise werden offiziell nicht genannt. Die Schätzung leitet sich von den Anschaffungskosten für 140 Eurofighter ab, die zwar offiziell nicht bekannt sind, aber der angegebene Preis im Bundeswehrplan 2009 (vom 10.6.2008, 81 Seiten, S. 72) in Höhe von 21,705 Mrd. Euro bietet einen Anhaltspunkt. Darin fehlen allerdings die Kosten für die Waffensysteme IRIS-T (525 Mio. und Meteor (461 Mio. Euro (a.a.O.)

 34 4.11.20, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/grossauftrag-die-bundeswehr-bekommt-38-neue-eurofighter/26590350.html?ticket=ST-6272823-EIQ53HOhP3c03oCbsGhE-ap1, Sie sollen von 2025 bis 2030 in die Bundeswehr eingeführt werden.

 

 werden, die speziell zur elektronischen Kampfführung ausgestattet werden.“35

 

45 Flugzeuge sollen, wenn es nach den Vorstellungen des Verteidigungsministeriums geht, in den USA gekauft werden. Die Anschaffungskosten für die 45 US-Flieger werden laut einer von Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie auf etwa 8 Mrd., ihre Lebenswegkosten gar auf 30 bis 35 Mrd. Euro geschätzt.36 30 dieser 45 US-Jets soll dieallerneueste Version (Block III) der F-18 „Super-Hornet“ sein, 15 E/A-

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 35 FAZ 29.4.20, Besser die Zweitbesten Das Eurofighter-Konsortium gibt an, diese speziellen Eurofighter bis 2026 liefern zu können.

 36 Konservativ geschätzt auf zwischen 7,67 und 8,77 Mrd. Euro. Otfried Nassauer, Ulrich Scholz, Teuer und umstritten – die Tornado-Nachfolge, Greenpeace-Studie, Hamburg, Juli 2020, 29 Seiten. Im Weiteren: Greenpeace-Studie https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/greenpeace_bits_kosten_tornadonachfolger_studie_07_2020.pdf

 

18 „Growler“ sollen zur elektronischen Aufklärung und Störung gegnerischer Stellungen und zu ihrer Bekämpfung mit Luft-Boden-Waffen beim Hersteller Boeing in den USA gekauft werden.

 

Die 30 „Super-Hornet“ sind dabei besonders gefährlich. Sie sollen die in Büchel gelagerten US-Atombomben tragen, die zurzeit bis mindestens 2025 noch von Bundeswehr-Tornados als deutscher Beitrag zur nuklear-technischen „Teilhabe“ der NATO gegen Russland einsetzbar gehalten werden.

 

„Diese Flugzeuge können, so hat es sich Annegret Kramp-Karrenbauer in Washington versichern lassen, sowohl eine Exportgenehmigung des Kongresses bekommen, als auch eine amerikanische Zertifizierung zum Tragen von Atombomben.“37

 

Zurzeit sind geschätzt 20 nukleare US-amerikanische Freifall-Bomben des Typs B61-3 und B61-4 in Büchel unterirdisch gelagert. Ab 2024 ist mit dem Nachfolgemodell B61-12 in Büchel zu rechnen. Auch diese sollen, wie ihre Vorgänger, selektierbare Sprengkraft (0,3 / 1,5 / 10 / 50 kt)38 besitzen. Das heißt, sie kann „unmittelbar vor dem Einsatz“ auf diese Sprengkraft „heruntergeregelt“39 werden. Aber zusätzlich werden sie durch Satellitensteuerung zu präzisionsgelenkten Bomben. Treffen die zurzeit noch vorhandenen Modelle in einem Radius von 170 Metern, wird der Trefferradius mit den neuen B61-12 „auf bis zu 30 Metern verringert.“40„Damit sind sie wesentlich treffsiche-

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 37 FAZ 29.4.20, Besser die Zweitbesten

 38 Zum Vergleich, die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von 13.000 Tonnen (13 kt) TNT-Äquivalent

 39 rt-deutsch 22.9.20

 40 ebenda

 

rer als ihre Vorgängermodelle und sollen über eine deutlich gesteigerte Vernichtungswahrscheinlichkeit verfügen.“41 Zudem - und das ist von ganz besonderer Bedeutung - können sie „mehrere Meter in das Erdreich eindringen und somit trotz geringerer Sprengkraft gezielt gegen tiefliegende Bunker eingesetzt werden.“42

  

Die Atombomber „Super Hornet“ müssen jeweils von E/A-18 „Growler“ und/oder speziellen Eurofightern begleitet werden, um durch Elektronische Kampfführung (Eloka) und Luft-Boden-Einsatz von Raketen die russischen Radar- und Luftabwehrsysteme möglichst frühzeitig zu zerstören. Der Atombomber selbst muss bis auf wenige Kilometer (28 km)43 an das Ziel heranfliegen, um die mitgeführten Atombomben aus großer Höhe mittels JDAM-Steuerung ins Ziel zu bringen und unbehelligt zurückfliegen zu können.

 

Welche Ziele kommen dafür konkret in Frage? „Super-Hornets“ haben einen Einsatzradius von mindestens 720 km.44 Vom Startort Büchel in der Eifel aus sind jeweils Zwischenstopps einzulegen, um in Russland zentrale Ziele erreichen zu können. Von deutschem Boden aus ist dann das Kaliningrader Gebiet direkt erreichbar. Erfolgt eineBetankung der Atombomber in den Baltischen Staaten, so könnten zentrale Ziele in St. Petersburg und Moskau präzise mit Atombomben angegriffen werden, von Nordnorwegen aus wären die Häfen der russischen strategischen U-Bootflotte auf der angrenzenden Halbinsel Kola erreichbar. Das macht die eigentliche Gefährlichkeit dieser

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 41 https://de.wikipedia.org/wiki/B61_(Kernwaffe), abgelesen 19.10.20

 42 ebenda

 43 https://de.wikipedia.org/wiki/Joint_Direct_Attack_Munition, abgelesen 19.10.20

 44 https://de.wikipedia.org/wiki/Boeing_F/A-18, abgelesen 19.10.20

 

 Atombomber der Bundeswehr mit neuen US-Atombomben aus. Assoziationen zur Debatte um die Stationierung US-amerikanischer hochpräziser Mittelstreckenraketen Pershing II Anfang der 80er Jahre, die ebenfalls die Fähigkeit besaßen, unterirdisch zu detonieren,drängen sich auf.

 

Aus russischer Sicht geht nicht nur von den in Deutschland stationierten US-Atombomben Gefahr aus, sondern auch von jenen, die in drei oder vier weiteren NATO-Staaten Europas gelagert sind45: in Belgien (Kleine Brogel) und den Niederlanden (Volkel) je 20 Sprengköpfe und in Italien (Aviano und Ghedi) zweimal 2046. Die 50 Atombomben imtürkischen Incirlik dürften dort inzwischen nicht mehr sein.47 48 Die somit mindestens 100 Atombomben werden von Kampfflugzeugen dieser jeweiligen NATO-Mitgliedsstaaten im Kriegsfall geflogen: F-16 in Belgien und den Niederlanden, Tornado in Italien und Deutschland, F-16 von der US-Luftwaffe in Italien. Die beiden genannten Flugzeugtypen F-16 und Tornado werden auf die neuen Nuklearbomben B61-12 zugelassen.49 50

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 45 https://fas.org/blogs/security/2019/10/nukes-out-of-turkey/, abgelesen 19.10.20

 46 https://de.wikipedia.org/wiki/Nukleare_Teilhabe#cite_note-12, abgelesen 19.10.20

 47 FAZ 17.10.20 Die Nato trainiert den Atomkrieg

 48 Offiziell bestätigt die NATO weder einen der Standorte noch die Anzahl der dort lagernden nuklearen Sprengköpfe.

 49 Otfried Nassauer, Trägerflugzeug zugelassen – B61-12 Atombombe lässt auf sich warten, 28.6.20, https://www.bits.de/frames/newd.htm, im Weiteren: Nassauer 28.6.20

 50 Alle diese Länder haben neue US-Atombomber des Typs F-35 bestellt. Belgien (34), Niederlande (46), Italien (90), die Türkei (bis zu 100, wurde aber von den USA nicht genehmigt, weil die Türkei das russische Luftverteidigungssystem S-400 gekauft hat). Italien setzt ebenfalls Tornados als Atombomber ein (Stationierungsort Ghedi/bei Brescia). Sie werden durch F-35 ersetzt. https://de.wikipedia.org/wiki/Lockheed_Martin_F-35, abgelesen 19.10.20

 

„Insgesamt wurden 890 (JDAM-)Leitwerke für Testzwecke, Ausbildung und Einsatz bestellt. Ihre Zahl ist etwa doppelt so groß wie die geschätzte Zahl der B61-12, die produziert werden sollen.“51 Es werden also über 400 B61-12 hergestellt. Folglich ist davon auszugehen, dass die B61-12, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Belgien,Italien und den Niederlanden (evtl. auch in der Türkei) stationiert werden.

 

Zurzeit müssten die NATO-Atombomber noch direkt über das Ziel fliegen, um die Bomben oberirdisch detonieren zu lassen. Sie gelten als nicht-strategische oder auch taktische Atomwaffen. Wenn alle mindestens 100 US-Atombomben mit JDAM nachgerüstet werden,spricht die russische Seite davon, dass sie ihren nicht-strategischen Charakter verlieren, und „um weitere 20 Jahre […], die Schwelle zum Ersteinsatz nuklearer Waffen in Europa gefährlich absenken.“52 So heißt es in einem russischen Grundsatzartikel auf rt-Deutsch. Vor dem Hintergrund der Aussage des NATO-Oberbefehlshabers Wolters, er sei ein Anhänger des flexiblen nuklearen Ersteinsatzes und der „NATO-Sitte, Luftpatrouillen wie etwa die Operation Air Policing Baltikum mit nuklearwaffenfähigen Flugzeugen (dual capable aircraft) zu fliegen, wird zudem das Risiko einer Katastrophe durch einen unbeabsichtigten Nukleareinsatz spürbar erhöht,“ so heißt es in dem Text weiter, „weil das russische Militär mit dem Aufkommen der B61-12 bei den Tornados und F-16 […] von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit ausgehen muss, dass diese eine solche Waffe geladen haben. In

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 51 Nassauer 28.6.20

 52 Rt-deutsch 22.9.20

 

Russland spricht man bereits länger von einer langandauernden Kubakrise 2.0.“53 Soweit dieser russische Grundsatzartikel, der aufhorchen lassen muss.

 

 Während die CDU/CSU, FDP und AFD für die Beibehaltung der „Nuklearen Teilhabe“ und damit den Kauf neuer Atombomber für die Bundeswehr eintreten, regt sich in den SPD-Spitzen von Fraktion und Partei Ablehnung. Auch DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen lehnen neue Atombomber ab. Die von Kramp-Karrenbauer in Gang gesetztenVertragsverhandlungen sind langwierig. Mit einem Vertragsabschluss

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 53 Rt-deutsch 22.9.20

 

ist frühestens Ende 2022 zu rechnen54, sodass erst der neue Bundestag darüber befindet.

 

Es wäre also Zeit, die Kampagne gegen die Atombomben in Deutschland zu intensivieren und zu verbreitern. Angeknüpft werden kann an „atomwaffenfrei jetzt! Büchel ist überall“55, an „Atombomber? Nein danke!“ 56 und „Atomwaffenverbotsertrag unterzeichnen“57 von ICAN oder an Greenpeace,58 das sich gegen die „Nukleare Teilhabe“ ausgesprochen hat. Die von Greenpeace in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage im Juli 2020 könnte dabei Auftrieb geben. 92 Prozent befürworten die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrages und 78 Prozent lehnen den Kauf von Kampfjets als Träger von Atomwaffen ab.59

 

Ein bedeutender Aspekt sollte bei der Debatte nicht zu kurz kommen: Die Kräfteverhältnisse der Luftwaffen. Die NATO verfügt zurzeit über 6.227 Kampfflugzeuge60 (davon 2.346 in Europa), Russland dagegen zusammen mit seinen OVKS-Partnern nur über 1.638. Das stellt eine genau 3,8-fache NATO-Luftüberlegenheit dar. Würden die stillzulegenden deutschen 118 Tornados und Eurofighter nicht durch neue Modelle ersetzt, reduzierte sich die NATO-Luftüberlegenheit vom 3,8-fachen auf das 3,73-fache, was faktisch nicht spürbar wäre. Allein

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 54 Greenpeace-Studie , S.7

 55 http://www.atomwaffenfrei.de/home.html

 56 https://www.icanw.de/

 57 https://www.icanw.de/grunde-fur-ein-verbot/verbotsvertrag/

 58 https://twitter.com/greenpeace_de/status/1242766020596686848

 59https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publica-

 tions/umfrage_atomwaffenverbotsvertrag__0.pdf

 60 IISS, The Military Balance 2019, Berechnungen des Autors


schon aus diesem Grund kann leicht auf alle 135 neuen Kampfflugzeuge verzichtet werden. Der Einspareffekt: 100 Milliarden Euro!

 

 Drohnen werden ebenfalls von der Luftwaffe betrieben. Die von CDU/CSU und Bundeswehr vorangetriebene Kampagne zur Bewaffnung von Drohnen – in diesem Fall betrifft es den etwa 1 Mrd. Euro teuren Leasingvertrag von sieben israelischen Drohnen HERON TP – kommt in eine entscheidende Phase. Wichtige Teile der SPD-Bundestagsfraktion signalisierten seit dem Sommer ein Einschwenken auf den CDU-CSU- und Bundeswehr-Kurs, so dass zu befürchten ist, dass Gelder für die Bewaffnung in den Bundeshaushalt 2021 eingestellt werden. Die HERON TP gilt als Übergangslösung für die Beschaffung von 21 sogenannten Eurodrohnen, die zurzeit entwickelt und wohl mit etwa 3 Mrd. Euro zu Buche schlagen werden. Anders als für die HERON TP, wo die Art der Bewaffnung, weil israelischen Ursprungs, der Geheimhaltung unterliegt, ist die Bewaffnung der 10 Tonnen schweren „Eurodrohnen“ schon öffentlich: „Brimstone 3 und GBU-49“61 heißen die Waffen. „Brimstone“ ist eine Panzerabwehrlenkrakete, die schnell fahrende Bodenziele präzise trifft.62 Die GBU-49 ist eine lasergelenkte Bombe von 227 kg-Gewicht, die auf sechs bis neun Meter genau trifft.63 Ab 2027 sollen die „Eurodrohnen“ in Jagel (Schleswig-Holstein) stationiert werden.64 Ein Vertragsabschluss wird noch für das 4. Quartal 2020 angestrebt.65 Spätestens bei der beabsichtigten Bewaffnung der „Eurodrohnen“ muss jedem deutlich werden, dass die Werbung für „Kampfdrohnen“ als angeblich präzise

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 61 23.5.20, http://www.imi-online.de/2020/05/23/eurodrohne-bewaffnung/

 62 https://en.wikipedia.org/wiki/Brimstone_(missile)

 63 https://de.wikipedia.org/wiki/Paveway

 64 Die Zeit, 2.7.20, Schutzengel oder Killermaschinen?

 65 10.6.20, http://www.imi-online.de/2020/06/10/eurodrohne-baldiger-abschluss/

 

  Waffenart im Unterschied zu Kampfhelikoptern, Kampfflugzeugenund Artillerie zur Makulatur wird.

 

 Kommen wir nun zur

 

EU-Militarisierung

 Es sind drei deutsch-französische Rüstungsprojekte am Start, die von außerordentlicher, ja epochaler Bedeutung sind. Das sind neue Generationen von Kampfpanzern, von Artilleriesystemen und von Kampfflugzeugen. Sie wurden 2017 zwischen Macron und Merkel in einer Regierungserklärung vereinbart.

 

Neue Kampfpanzer-Generation MGCS

 Bis 2035 sollen neue Kampfpanzer produktionsreif sein und die Leopard 2 der Bundeswehr und die Leclerc-Panzer in der französischen Armee ersetzen. Der Begriff Kampfpanzer wird beim Projektnamen vermieden. Er heißt Main Ground Combat System (MGCS). Denn Ziel ist es, „ein Hightech-System zu entwickeln, bei dem Robotik und Waffen wie Hochgeschwindigkeitsraketen eine entscheidende Rolle spielen.“66 MGCS soll so zu einem militärischen Game-Changer werden.67 Ziel ist es auch, das neue Waffensystem zum Standard-Panzer in Europa zu machen, um die Vielzahl der Typen – von 17 ist die Rede - abzuschaffen.

 

Der Geschäftsführer der Münchner Panzerschmiede Krauss-MaffeiWegmann, Frank Haun, rechnet in den nächsten 25 bis 30 Jahren in

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 66 Björn Müller, Streitkräfte und Strategien, NDR Info, 2.11.19

 67 Björn Müller, Die Hürden für Europas gemeinsamen Kampfpanzer, 31.10.19, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ruesten-fuer-europa-huerden- fuer-den-gemeinsamen-kampfpanzer-16439321-p2.html

 

Europa mit einem Bedarf von 5.000 Kampfpanzern im Wert von 75 Milliarden Euro.68 Deswegen sind sein Konzern Krauss-Maffei Wegmann (KMW), Hersteller der Leopard-Panzer, und der französische Leclerc-Hersteller Nexter 2015 zur Firma KNDS69 fusioniert, um das neue MGCS herzustellen. Für das Projekt mussten sie den Kanonenhersteller Rheinmetall mit ins Boot holen. Nach langem Machtgerangel haben die drei Seiten sich darauf verständigt, die noch zu gründende Projektgesellschaft zwischen Deutschland und Frankreich zu gleichen Teilen aufzuteilen: Nexter hält 50 Prozent, KMW und Rheinmetall je 25 Prozent. Während hier im Gesellschafterkreis eine deutsch-französische Parität herrscht, werden die Arbeitspakete auf Nexter, KMW und Rheinmetall gedrittelt, so dass es hier ein deutsches Übergewicht gibt. Gesteuert werden soll das MGCS-Projekt von einem 18-köpfigen „Combat Project Team“, in dem die deutsche Seitedie Führung hat.70 Das heißt also, das Projekt steht unter deutscher Führung. Allerdings „sollen die Werke in Deutschland und Frankreich zu gleichen Teilen profitieren.“71 An weltweite Umsätze von rund 100 Milliarden Euro bis in die 40er Jahre hinein wird gedacht. „Von 30 Milliarden Euro Auftragsumfang ist die Rede,“ allein für Deutschland undFrankreich, weiß das Handelsblatt zu berichten.72

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 68 Handelsblatt, 26.4.18, https://www.handelsblatt.com/today/companies/arms-race-until-bundeswehr-starts-buying-kmw-relies-on-overseas-customers/23581976.html

 69 KNDS = KMW + NEXTER Defence Systems

 70 15.10.19, https://www.pivotarea.eu/2019/10/15/main-ground-combat-system-einigung-ueber-industriellen-lead/

 71 FAZ 14.10.19, Kompromiss über deutsch-französischen Panzer in Sicht.

 72 Handelsblatt, 26.4.18, https://www.handelsblatt.com/today/companies/arms-race-until-bundeswehr-starts-buying-kmw-relies-on-ovrseas-customers/23581976.html

 

Neue Generation Artilleriesysteme

 Für die Entwicklung der neuen Generation von Artilleriesystemen ist eine Projektstudie in Arbeit. Ziel ist es, ein Artilleriesystem herzustellen, dass bis 2040 in der Bundeswehr Mörser und Mehrfachraketenwerfer ablösen soll.73 KMW-Geschäftsführer Haun schätzt das Umsatzvolumen für Artilleriesysteme in Europa bis 2050 auf 25 Milliarden Euro.74

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 73 NZZ 2.4.19, Marco Seliger, Die schwierige Geschichte der deutsch-französischen Rüstungskooperation, https://www.nzz.ch/international/deutsch-franzoesische-ruestungskooperation-ist-muehselig-ld.1470274

 74 Handelsblatt, 26.4.18, https://www.handelsblatt.com/today/companies/arms-race-until-bundeswehr-starts-buying-kmw-relies-on-overseas-customers/23581976.html

 

Nexter, KMW und Rheinmetall sind Hersteller sowohl von Kampfpanzern als auch von Artilleriesystemen. Sie erwarten daraus ein Umsatzvolumen von insgesamt 125 Milliarden Euro. 2018 addierte sich der Jahresumsatz der drei Rüstungsschmieden auf gerademal rund 6 Milliarden Euro75. Deutlich ist, welche irrsinnige Aufrüstungsdimension hier vorbereitet wird – das 20fache der Jahresproduktion dieser Rüstungsschmieden.

 

Das dritte Großprojekt, was ebenfalls unabhängig von den USA entwickelt werden soll, ist das neue

 

Kampfflugzeugsystem FCAS

 Französische Rafale-Kampfflugzeuge und die Eurofighter werden in 20 Jahren ihre Altersgrenze erreicht haben. Sie sollen dann durch eine neue Generation von Kampfflugzeugen abgelöst werden, einem System, das als „System der Systeme“76 bezeichnet wird. Es besteht aus einer Integration von bemanntem oder unbemanntem Kampfflugzeug, Kampfdrohnen, bewaffnetem Drohnenschwarm, Aufklärungs-,Transport – und Tankflugzeugen, Satelliten und AWACS-Maschinen, Schiffen und Künstlicher Intelligenz - verbindet also Systeme in Weltraum, Luft, Wasser, Land und dem Cyberraum. Deshalb wurde dafür der umfassende Name Future Combat Air System (FCAS) gewählt, also Luftkampfsystem der Zukunft. Der Rafale-Hersteller Dassault solldas Kampfflugzeug herstellen. „Für das Gesamtsystem einschließlich

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 75 Laut Sipri.org: Insgesamt 6,6 Mrd. USD: Rheinmetall 3,8 Mrd. USD, KMW 1,7 Mrd. USD, Nexter 1,08 Mrd. USD

 76 6.11.18, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ruestung-deutsch-franzoesisches-kampfflugzeug-wie-politik-und-industrie-einander-blockieren/23573750.html?ticket=ST-1216962-cAoXgkfTYvx9IccBEjzY-ap5

geplanter Drohnenschwärme, Satelliten und Bodenstationen ist dagegen Airbus zuständig“.77 Die Drohnenschwärme testete Airbus bereits 2018 über der Ostsee. Sie sollen bewaffnet sein und „unter Umständen schon Mitte des kommenden Jahrzehnts Einsatz finden“,78 berichtete die FAZ vor fast zwei Jahren. Das heißt, in fünf Jahren wärees soweit. Drohnenschwärme werden – folgt man der Einschätzung von Fachleuten – künftig kriegsentscheidend sein. Die USA und China sind in diesen Entwicklungen führend.

 

Hierzulande entwickelte das Heer in den letzten Jahren Thesenpapiere und Kriegsszenarien, die sich mit einem „technologisch gleichwertigen Gegner“ befassen. Ergebnis: Die Entwicklungsabteilung des Heeres leitet daraus ab, dass die Bundeswehr umfassend mit automatisierten und autonom gesteuerten unbemannten Flugsystemen

 ausgerüstet werden muss. Künstliche Intelligenz erhält dabei eine zentrale Bedeutung. 79

  

Verwendung sollen Drohnen finden, die kleiner sind als Tennisbälle oder über einen Meter groß. Sie fliegen in Formationen zu Hunderten oder zu Tausenden. Dabei dient die Anwendung künstlicher Intelligenz dazu, die Schwärme automatisch handeln zu lassen (Stichwort: Killer-Roboter): Als Punktaufklärer, um Angriffsziele zu markieren; zum Sperren eines Raumes mit automatischer Überwachung der

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 77 FAZ 7.2.2019, S. 22, Paris und Berlin überreichen erste Schecks für Kampfflieger

 78 FAZ 7.2.2019

 79 Amt für Heeresentwicklung, Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften, Köln, August 2019, 31 Seiten, S. 23, https://www.bundeswehr.de/resource/blob/156024/d6ac452e72f77f3cc071184ae34dbf0e/download-positionspapier-deutsche-version-data.pdf, Autorenteam Kdo H II (2), Thesenpapier, Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?, September 2017, 28 Seiten, https://www.pivotarea.eu/wp-content/uploads/2017/09/OOO.pdf

 

Sperre und für den Einsatz von Bomben oder Raketen gegen Gegner und zum Einsickern in gegnerisches Gebiet, um so Angriffe in mehreren Wellen im Kamikazemodus ausführen zu können. (Übersättigungsangriffe).

 

Es gibt weitere Anwendungsbeispiele, die Horrorfantasien keine Grenzen setzen.

 

Der Chef der Airbus-Rüstungssparte Dirk Hoke erklärt – sehr komprimiert - den FCAS-Systemverbund:„Es geht um die Schaffung einer europäischen Cloud-Lösung mit Standardisierung der militärischen Kommunikation und Konnektivität. Dadurch sollen die Informationen aller Land-, See-, und Luftsysteme zusammenlaufen, in Echtzeit analysiert werden und Auswertungen situationsbedingt zurückgespielt werden. […] Wir sprechen hier“, so Hoke, „von dem prägendsten Hochtechnologieprojekt in der europäischen Verteidigung der nächsten fünf Jahrzehnte“.80 Hoke übertreibt nicht. Das Projekt wird „nach Schätzungen aus der Branche,“ so das Handelsblatt, „einen Umsatz von 500 Milliarden Euro bringen“.81 Da muss man erst einmal schlucken. Das ist das Fünffache des bisher größten europäischen Rüstungsprojekts – dem Eurofighter.82 Allein für die FCAS-Entwicklung werden Kosten von 80 bis 100 Milliarden Euro genannt. Wenn wir uns

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 80 Der Spiegel Nr. 41/ 5.10.19, S. 63

 81 Thomas Hanke, Martin Murphy, Donata Riedel, So wollen Deutschland und Frankreich ihre Rüstungsindustrie neu aufstellen, 26.11.18, https://www.handelsblatt.com/politik/international/gemeinsame-jets-und-panzer-so-wollen-deutschland-und-frankreich-ihre-ruestungsindustrie-neu-ufstellen/23673794.html?ticket=ST-1006788-z1Z9FyM2EFj5ebyOImst-ap2

 82 Die 140 Bundeswehr-Eurofighter der Tranchen 1 bis 3A kosteten knapp 25 Milliarden Euro. Für insgesamt 623 bestellte Eurofighter müssen rund 100 Milliarden Euro berappt werden.

 

vor Augen führen, dass Airbus und Dassault zurzeit zusammen jährlich 12 bis 13 Milliarden Euro83 Umsatz mit Rüstung machen, wird klar, welches enorme Wachstum sich diese Rüstungskonzerne durch das FCAS-Projekt bescheren wollen. Während einer Produktionslaufzeit von 20 Jahren würde sich ihr Umsatz vervielfachen. Airbus würdeim Rüstungsbereich Umsätze machen wie die größten Rüstungskonzerne der Welt.

 

Durch das FCAS-Projekt würde ein Luftwaffengigant im Weltmaßstab gebildet. Das FCAS ist wegen der angestrebten umfassenden echtzeitlichen Integration aller Teilstreitkräfte und des Weltraums geeignet, weltweit die Vorherrschaft zu erlangen. Die militarisierte EU wäre Weltmacht unter deutsch-französischer Führung. Seit Juni letzten Jahres ist Spanien als Unterzeichner eines Rahmenabkommens dazugekommen. Bis Anfang 2021 soll eine Konzeptstudie fertig sein. Dafür und für die Herstellung eines fliegenden Demonstrators, der aus Kampffliegern und Drohnen bestehen soll, hat der Bundestag bereits 110 Millionen Euro bewilligt. Milliardenforderungen aus der Industrie für die nächsten Jahre stehen im Raum,84 damit der „Demonstrator“ 2026 fertig wird.

 

Die Luftwaffenchefs Deutschlands, Frankreich und Spaniens haben kürzlich gesagt, worum es ihnen mit dem FCAS-System geht: Es „soll in allen Kategorien des Luftkampfes über hervorragende Fähigkeiten verfügen, dadurch die Luftüberlegenheit unserer Luftwaffen und

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 83 Laut Sipri.org machte Airbus mit Rüstung 2018 einen Umsatz von 10,65 Mrd. USD, Dassault 2,93 Mrd. USD

 84 FAZ 9.11.20, Luftabwehr droht Verzug


dadurch die erforderliche Bewegungsfreiheit der anderen Teilstreitkräfte sicherstellen.“85 Auch das klingt nach Weltmachtambitionen.

 

Von deutscher Seite besteht das Bestreben, auch Briten, Italiener und Schweden mit in das Projekt zu holen, damit es ein gesamteuropäisches wird. Diese verfolgen mit der Tempest ein eigenes ähnliches Projekt. Frankreich ist in der Frage dieser Integration skeptisch. Möglicherweise wird die Wirtschaftlichkeit des FCAS-Projekts für dieErweiterung der Teilnehmerzahl aber den Ausschlag geben, weil man große Stückzahlen benötigt.

 

 Ein sehr bedeutsamer Aspekt des FCAS-Kampfflugzeugs darf nicht unerwähnt bleiben. Es wird auch als Atomwaffenträger konzipiert, denn die jetzt im Einsatz befindlichen Rafale-Atombomber Frankreichs werden in 20 bis 25 Jahren fluguntauglich. Werden die FCAS-Systeme zur Standardwaffe in Europa wirft das Fragen bezüglich der US-Atombomben als deutsche „Nukleare Teilhabe“ auf. CDU/CSU, FDP und AFD wollen bekanntlich daran festhalten, und müssten also ab 2040 die US-Atombomben an neue – hochmoderne - deutsch-französische Flugzeuge hängen. Das lassen die USA nur nach vorheriger sehrgründlicher Zertifizierung des Flugzeugs zu, was die Preisgabe der innersten technischen Geheimnisse dieser Jets beinhaltet. Die deutsch-französische Bereitschaft dazu ist gleich Null. Also, was tun? Etwa auf die Nukleare Teilhabe verzichten? Gut wär’s. Aber da kommt der französische Präsident Macron mit dem Angebot eines „strategischen Dialogs“ über französische Atomwaffen daher. Kramp-Karrenbauers

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 85 FAZ.net 21.2.20, Philippe Lavigne, Javier Salto Martines-Avial, Ingo Gerhartz, Die Zukunft der europäischen Luftwaffen, https://www.faz.net/aktuell/ politik/gastbeitrag-die-zukunft-der-europaeischen-luftwaffen-16642571.html


Antwort kam postwendend: „Das ist eine Einladung, die wir auf jeden Fall annehmen werden.“86

 

86 FAZ 21.2.20, Berlin will mit Paris über Atomwaffen reden

 

 

 

 

 

Max Horkheimer

 

 

Dämmerung. Notizen in Deutschland
darin:

 

DER WOLKENKRATZER.

 

 Ein Querschnitt durch den Gesellschaftsbart der Gegenwart hätte ungefähr folgendes darzustellen: Obenauf die leitenden, aber sich untereinander bekämpfenden Trustmagnaten der verschiedenen kapitalistischen Mächtegruppen; darunter die kleineren Magnaten, die Grossgrundherren und der ganze Stab der wichtigen Mitarbeiter; darunter — in einzelne Schichten aufgeteilt — die Massen der freien Berufe und kleineren Angestellten, der politischen Handlanger, der Militärs und Professoren, der Ingenieure und Bürochefs bis zu den Tippfräuleins; noch darunter die Reste der selbständigen kleinen Existenzen, die Handwerker, Krämer und Bauern e tutti quanti, dann das Proletariat, von den höchst bezahlten gelernten Arbeiterschichten über die Ungelernten bis zu den dauernd Erwerbslosen, Armen, Alten und Kranken. Darunter beginnt erst das eigentliche Fundament des Elends, auf dem sich dieser Bau erhebt, denn wir haben bisher nur von den hochkapitalistischen Ländern gesprochen, und ihr ganzes Leben ist ja getragen von dem furchtbaren Ausbeutungsapparat, der in den halb und ganz kolonialen Territorien, also in dem weitaus grössten Teil der Erde funktioniert. Weite Gebiete des Balkan sind ein Folterhaus, das Massenelend in Indien, China, Afrika übersteigt alle Begriffe. Unterhalb der Räume, in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiss, das Blut, die Verzweiflung der Tiere.

 

   Man spricht gegenwärtig viel von „Wesensschau". Wer ein einziges Mal das „Wesen" des Wolkenkratzers „erschaut" hat, in dessen höchsten Etagen unsere Philosophen philosophieren dürfen, der wundert sich nicht mehr, dass sie so wenig von dieser ihrer realen Höhe wissen, sondern immer nur über eine eingebildete Höhe reden; er weiss, und sie selbst mögen ahnen, dass es ihnen sonst schwindlig werden könnte. Er wundert sich nicht mehr, dass sie lieber ein System der Werte als eines der Unwerte aufstellen, dass sie lieber „vom Menschen überhaupt" als von den Menschen im besonderen, vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein handeln: sie könnten sonst zur Strafe in ein tieferes Stockwerk ziehen müssen. Er wundert sich nicht mehr, dass sie vom „Ewigen" schwatzen, denn ihr Geschwätz hält, als ein Bestandteil seines Mörtels, dieses Haus der gegenwärtigen Menschheit zusammen. Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.

 

 

 

30. November 2020

 

Von Trump zu Biden - Fortschritt oder

„Weiter, wie gehabt“?

 

Mögliche Veränderungen der US-Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik ab 2021

 

Von Andreas Zumach

 

 

Wer erinnert sich noch an den ersten Präsidentschaftswahlkampf von Donald Trump im Jahr 2016? Trotz seines Sexismus und Rassimus´, die der New Yorker Immobilienhai schon damals ganz unverblümt demonstrierte und trotz seiner aggressiven Töne gegenüber China hielt so mancher Beobachter in Europa - auch in der Schweiz - Trump damals aus friedensbewegter/politischer Sicht für die bessere Option als seine Gegenkandidatin Hillary Clinton. Denn diese hatte in der Vergangenheit mehrfach Kriege und militärische Interventionen der USA befürwortet: darunter 2003 als Senatorin in Washington den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg von Präsident George Bush und 2011 als Außenministerin von Barak Obama die militärische Intervention in Libyien.

 

Trump hingegen, der 2016 erstmals überhaupt nach einem politischen Amt strebte, versprach im Wahlkampf, als künftiger Präsident auf weitere militärische Interventionen zu verzichten, die USA „aus den Händeln dieser Welt“ herauszuhalten und die amerikanischen Truppen aus den Kriegen und Besatzungsmissionen in fernen Ländern nach Hause zu holen. Das kam auf beiden Seiten des Atlantiks sowohl bei Linken und Friedensbewegten gut an wie auch bei isolationistisch gestimmten Rechten innerhalb wie außerhalb der Republikanischen Partei der USA. Trumps seit Juli 2016 wiederholte Erklärungen, die NATO sei „obsolet“ , die europäischen Verbündeten müssten selber für ihre Sicherheit sorgen und könnten sich nicht mehr auf die (nukleare) Beistandsgarantie der USA verlassen, schürten bei manchen Gegnern und Kritikern der Militärallianz sogar die Hoffnung auf ihren baldigen Zerfall.

 

 Die Realität seit Trumps Amtsantritt am 21. Januar 2017 sah dann sehr anders aus. Der Präsident entpuppte sich als Wolf im Schaftspelz.

 

Einen neuen heißen Krieg hat Trump zwar bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels am 30. November 2020 nicht begonnen. Und die Zahl der in Auslandseinsätzen im Irak, Afghanistan und Syrien befindlichen US-Soldaten hat er zumindest reduziert. Zugleich wurde die Zahl der in Saudi-Arabien und anderen sunnitischen, mit Iran verfeindeten Golfstaaten stationierten US-Soldaten allerdings erhöht - worüber das Pentagon seit 2017 keine öffentlichen Angaben mehr macht. Doch von der Führung neuer Kriege und der Zahl der in Auslandseinsätzen befindlichen US-Soldaten abgesehen hat die Trump-Administration auf fast allen Feldern der internationalen Beziehungen der USA - Außen-, Sicherheits-, Militär-, Rüstungs-, Handels- und Umweltpolitik - eine gefährliche Linie der Konfrontation und Konfliktverschärfung betrieben. Und dies unter massiver Verletzung und  Missachtung von Völkerrecht, multilateralen Verträgen und Institutionen sowie von Normen und Regeln internationaler Kooperation. Das gilt unter anderem für sämtliche Maßnahmen der Trump-Administration mit Blick auf den Konflikt Israel/Palästina; für die „sekundären Sanktionen“ gegen Unternehmen und Banken in Drittstaaten, die Wirtschaftsbeziehungen mit Iran unterhalten sowie für die Sanktionen und entsprechenden Drohungen gegen Unternehmen, die am Bau der Nord-Stream-2-Pipeline beteiligt sind; für Trumps „Nukleares Feuer“-Vernichtungsdrohung gegen Nordkorea in einer Rede vor der UN-Generalversammlung; für die Drohungen gegen Staatsanwälte und Richter des Internationalen Strafgerichtshofes, um diese von Ermittlungen und Verfahren zu Kriegsverbrechen von US-Soldaten und Geheim(dienst)agenten abzuhalten; für die Blockade der Neubesetzung von Richterposten für die Schiedsverfahren bei der Welthandelsorganisation (WTO).

 

 Der künftige Präsident Joe Biden unterscheidet sich heute zumindest in seinem Stil und Umgangston deutlich und wohltuend von seinem Vorgänger. Dasselbe gilt für seine Vizepräsidenten Kamala Harris im Vergleich zum bisherigen Vizepräsidenten Mike Pence, dem gefährlichsten Ideologen in der Trump-Administration. Dass Biden im Vorwahlkampf der demokratischen Präsidentschaftsbewerber im Jahr 2008 seinen damaligen Rivalen Barack Obama in rassistischer, Trump-ähnblicher Manier als „den ersten gewaschenen, artikulationsfähigen und im Kopf mal hellen Mainstream-Afroamerikaner“ verhöhnte, scheint längst vergessen. Im Kontrast zu Trump wird Biden in vielen medialen Erzählungen dieser Tage unter Verweis auf seine  Zeit als Senator in Washington (1973-2009) sowie als Vizepräsident von Barak Obama (2008-2016)  als Brückenbauer zwischen verschiedenen politischen Lagern beschrieben, als kompromissfähig sowie als Befürworter multilateraler Kooperation mit anderen Staaten. In diesem Bild des künftigen US-Präsidenten fehlen allerdings wichtige Puzzle-Teile: Biden unterstützte - ebenso wie Hillary Clinton - den völkerechtswidrigen Irak-Krieg von 2003. Erst 2007 distanzierte er sich von dieser Position. Und als Vizepräsident warb Biden im März 2011 bei seinem Chef Obama für eine militärische Intervention in Libyien. Auch Bidens damaliger Sicherheitsberater Anthony Blinken, der jetzt Außenminister werden soll, vertrat diese Linie, ebenso wie der für den Posten des nationalen Sicherheitsberaters vorgesehene John Sullivan, der 2011 Chef des Planungsstabes von Außenministerin Clinton war.

 

Bei der von ihm befürworteten multilateralen Kooperation beansprucht der künftige US-Präsident allerdings die „Führungsrolle“ für die USA, wie er in einem Fernsehinterview am 24. November nach der Ernennung seiner KandidatInnen für die wichtigsten außenpolitischen Posten seiner Administration unmissverständlich deutlich machte.  Das heißt - unabhängig davon, wie realitätstauglich ein solcher Führungsanspruch angesichts der sich ändernden globalen Machtverhältnisse noch ist -, dass Biden nicht bereit ist, die multipolare Wirklichkeit der heutigen Welt anzuerkennen

 

Konkrete Prognosen, wie sich die USA unter der Biden/Harris-Administration gegenüber dem „Rest der Welt" verhalten werden, sind nur sehr begrenzt möglich. Denn da  im Wahlkampf  außenpolitische Themen fast überhaupt keine Rolle spielten und die KandidatInnen dazu auch von den Medien fast nie befragt wurden, mussten sie sich dazu kaum äußern. Nur zu einigen wenigen Entscheidungen und Maßnahmen der Trump-Administration auf dem Gebiet der internationalen Politik hat Biden im Wahlkampf oder seit seinem Sieg am 3. November Korrekturen angekündigt oder zumindest für möglich erklärt.  Zu Themen, zu denen der künftige US-Präsident bislang nicht öffentlich Position bezogen hat, sind zunächst nur Vermutungen möglich auf Basis seiner aus früheren Jahren bekannten Haltung zu diesen Fragen. Gewissen Aufschluss über die künftige Politik bieten auch die Meinungen gewichtiger PolitikerInnen der Demokratischen Partei im Kongress sowie die Namen der Personen, die in Washington bislang für führende Positionen in der Biden-Administration gehandelt werden.

 

 Im Einzelnen:

 

Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Corona

 

Biden hat angekündigt, er werde den von Trump nach Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 angedrohten und im Juli dann vollzogenen Austritt der USA aus der WHO am 21. Januar 2021 - seinem ersten Arbeitstag im Weißen Haus - wieder rückgängig machen. Das ist die konkreteste aller Ankündigungen, die der neue US-Präsident vor und seit seiner Wahl überhaupt gemacht hat. Die 90 Millionen US-Dollar Beitragsgelder, die die Trump-Administration der WHO bereits im laufenden Haushaltsjahr 2020 verweigert hatte, will Biden nachzahlen. Und die Kooperationsprojekte zwischen den USA und der WHO, die Trump durch den Abzug fast aller US-amerikanischen GesundheitsexpertInnen und ÄrztInnen zum Erliegen gebracht hatte, sollen wieder aufgenommen werden.

 

Für Biden ist die Mitgliedschaft in der WHO aktuell besonders wichtig mit Blick auf die Bekämpfung der Corona-Pandemie, die er zu seiner wichtigsten innenpolitischen Priorität erklärt hat und die zumindest sein erstes Amtsjahr im Weißen Haus wesentlich bestimmen dürfte. Unklar ist bislang allerdings, ob die USA auch der internationalen Impfstoffplattform COVAX beitreten, deren Ziel die gemeinsame Entwicklung, Herstellung und global gerechte Verteilung eines Covid-19-Impfstoffs ist. An der gemeinsam von der WHO und der internationalen Impfallianz GAVI geführten COVAX sind bislang rund 110 Staaten beteiligt. Auf dem virtuellen G-20-Gipfel am 21./22. November hatte Trump einen Beitritt der USA noch einmal ausdrücklich ausgeschlossen und mit Blick auf eine global gerechte Verteilung von ab Mitte Dezember möglicherweise zur Verfügung stehenden Impfstoffen der beiden US-Pharmakonzerne Pfizer und Moderna noch einmal seine „America First“-Politik betont.

 

 Globale Erwärmung/Klimaschutz/Pariser Abkommen

 

In einer zweiten konkreten Ankündigung hat Biden die Rückkehr der USA zum 2018 von Trump aufgekündigten Pariser Klimaschutzabkommen zugesagt. Zwar bislang ohne konkreten Termin, aber in Washington wird damit gerechnet, dass er diesen Schritt in den ersten Wochen seiner Amtszeit vollziehen wird. Auch die von Trump betriebene Verstümmelung der nationalen Umweltschutzbehörde EPA (Enviromental Protektion Agency) durch die Bestellung eines Lobbyisten der Kohleindustrie zum Behördenchef sowie durch den Entzug von Kompetenzen, Personal und Finanzen will Biden rückgängig machen. Zudem hat er in Aussicht gestellt, die Genehmigungen für umweltpolitisch besonders fragwürdige Pipelineprojekte (zum Beispiel die Alaska-Pipeline) wieder aufzuheben.

 

Entscheidend für die umweltpolitische Bilanz der Biden/Harris-Administration nach den nächsten vier oder auch acht Jahren dürfte aber sein, ob sie auch die erforderlichen Maßnahmen ergreift zur Umsetzung der Ziele des Pariser Klimaabkommens und ob sie vom Kongress die dafür erforderlichen finanziellen Mittel erhält.

 

 Konflikt mit Iran/Nuklearabkommen

 

Biden hat den Wiederbeitritt der USA zu dem Abkommen zur Begrenzung des iranischen Nuklearabkommen auf zivile Ziele in Aussicht gestellt, aus dem die Trump-Administration im Mai 2018 ausgestiegen war. Als Vizepräsident unter Barak Obama war Biden neben Außenminister John Kerry an den inoffiziellen geheimen Vorsondierungen zwischen Washington und Teheran und den offiziellen Verhandlungen beteiligt, die dann im Juli 2015 zu dem gemeinsam mit Russland, China, Frankreich, Großbritannien und Deutschland vereinbarten Nuklearabkommen führte. Biden ist der Überzeugung, dass dieses Abkommen die beste Gewähr bietet, eine Entwicklung von Atomwaffen im Iran zu verhindern. Den Wiederbeitritt der USA hat Biden allerdings davon abhängig gemacht, dass Iran zuvor alle bislang bekannt gewordenen Verstöße gegen das Abkommen einstellt. Die Führung in Teheran hatte vergeblich gehofft, sie könne mit begrenzen, schrittweisen Verletzungen des Abkommens die anderen Vertragsstaaten dazu bewegen, effektiv gegen die Sanktionen vorzugehen, mit denen die Trump-Administration inzwischen die iranischen Ölexporte drastisch reduziert und dem Land eine schwere Wirtschaftskrise beschert hat. Zugleich betonte die iranische Führung immer wieder ihren Willen zum Festhalten an dem Nuklearabkommen. Außenminister Sharif erklärte nach nach Bidens Wahlsieg, Teheran sei „verhandlungsbereit“ und wolle alle Verstöße gegen das Abkommen rückgängig machen - allerdings erst nach Aufhebung der „illegalen“ Sanktionen der USA. Ob die Biden-Administration bereit sein wird, den ersten Schritt zu tun, ist bislang nicht absehbar. Erschwerend kommt hinzu, dass es auch unter Kongressmitgliedern und Sicherheitspolitikern der Demokraten Sympathien gibt für die einst von der Trump-Administration erhobene Forderung, das Nuklearabkommen zu erweitern um ein Verbot ballistischer (konventioneller) Raketen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron sowie kürzlich der bundesdeutsche Außenminister Heiko Maas signalisierten Unterstützung für diese Forderung. Doch die iranische Führung lehnt eine Erweiterung des Nuklearabkommens strikt ab. Sie wäre zwar bereit zu Verhandlungen über Rüstungskontrollbeschränkungen oder gar ein totales Verbot für ballistische Raketen in der gesamten Nahost-Region - unter Beteiligung aller Staaten, die derartige Waffen heute schon haben oder derzeit ihre Entwicklung bzw. Anschaffung betreiben (darunter Israel, Saudi-Arabien, Ägypten und die Türkei). Doch ein selektives Verbot von ballistischen Raketen lediglich im Iran kommt für die Führung in Teheran nicht in Frage.

 

Der von der Trump-Administration über Jahre systematisch eskalierte Konflikt mit Iran birgt auch für die noch verbleibenden Wochen bis zur Amtsübergabe im Weißen Haus am 20. Januar gefährliche Sprengkraft. Am 12. November suchte Trump bei Beratungen mit seinem Vize Mike Pence, Außenminister Mike Pompeo, dem kurz zuvor neu berufenen Pentagonchef ChristopherMiller sowie dem Oberkommandierenden der Streitkräfte, General Mark Milley, die Zustimmung zu Luftschlägen gegen Iran - darunter gegen die unterirdische Nuklearanlage Natanz. Seine Gesprächspartner rieten ihm ab. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass Trump in seiner wachsenden Verzweiflung über das bevorstehende Ende seiner Präsidentschaft und in dem Bestreben, seinem Nachfolger das Regieren so schwer wie möglich zu machen und das Nuklearabkommen mit Teheran endgültig zu zerstören, noch einen Militärschlag gegen Iran anordnet. Dann wird es darauf ankommen, ob die militäischen Kommandeure die Courage haben, einen solchen Befehl des Präsidenten zu verweigern.

 

 Israel/Palästina

 

Bei keinem anderen außenpolitischen Thema hat die Trump-Administration so viel Schaden angerichtet mit nachhaltigen fatalen Auswirkungen wie mit Blick auf den Konflikt Israel-Palästina.

 

Biden hat bislang lediglich in Aussicht gestellt, seine Administration werde wieder zur erklärten, von Trump 2018 aber aufgekündigten Zielsetzung einer Zweistaaten-Lösung zurückkehren und damit zur offiziellen Sprachregelung aller US-Regierungen seit 1967. Zudem wird die Biden-Administration voraussichtlich die von Trump eingestellten Zahlungen an das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) wieder aufnehmen. Keine Hinweise gibt es bislang, dass Biden die in der Trump-Administration von dessen Vize Pence betriebene Verlagerung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem wieder rückgängig machen wird. Und offen ist bislang auch, ob die USA unter Biden zu der seit 1967 international gültigen und in vielen hundert UNO-Resolutionen, völkerrechtlichen Dokumenten und Verträgen verankerte Bezeichnung der Westbank, des Gazastreifens und Ostjerusalems als „Occupied Palestinian Territories“ (OPT; besetzte palästinensische Gebiet) zurückkehren wird. Trumps Außenminister Pompeo hatte diese Bezeichung im Sommer 2018 aus allen US-Regierungsdokumenten getilgt und durch den Begriff „disputed territories“ (umstrittene Gebiete) ersetzt. Und bei seinem jüngsten Besuch in der Westbank Mitte November machte Pompeo deutlich, dass er und Trump dieses Gebiet inzwischen sogar nicht mehr als „umstritten“ einstufen, sondern - genauso wie zuvor schon im Jahr 2018 die besetzten syrischen Golanhöhen - in krasser Missachtung des Völkerrechts als integralen Bestandteil des israelischen Staatsterritoriums betrachten. Auch Produkte aus diesen Gebieten mit der falschen Herkunftsbezichnung „aus Israel“ sollen laut Pompeo künftig in die USA exportiert werden können. Wird die Biden-Administration diese flagrante Verletzung des Völkerrechts wieder rückgängig machen? Wird sie den von Trump im Frühsommer präsentierten sogenannten „Friedensplan“ für Nahost, der zumindest auf eine Teilannexion bislang besetzter Gebiete hinausläuft, für obsolet erklären? Mit den Debatten zur Nahostpolitik vertraute ExpertInnen in Washington sind eher skeptisch. Sie verweisen darauf, dass Biden für lange Zeit mit der Bewältigung der Corona-Pandemie und anderen großen innenpolitischen Herausforderungen beschäftigt sein wird. Zudem könne Biden und mit ihm die Demokratische Partei mit einem Engagement für eine gerechte Friedensregelung des israelisch-palästinensischen Konflikts innenpolitisch mit Blick auf künftige Wahlen nur wenig gewinnen.

 

 Atomwaffen/INF und New Start-Abkommen

 

Bereits unter der Obama-Administration hatten die USA ein umfangreiches und sehr kostspieliges Programm zur Erneuerung und „Modernisierung“ des Atomwaffenarsenals beschlossen. Darunter fällt unter anderem die im Herbst 2019 bereits vollzogene „Modernisierung“ der  US-Atombomben, die noch in den NATO-Staaten Deutschland, Niederlande und Belgien stationiert sind. Im Rahmen der sogenannten „nuklearen Teilhabe“ innerhalb der NATO können diese Atombomben im Fall eines Krieges von den USA auch an die Luftstreitkräfte der drei Stationierungsländer zum Einsatz übergeben werden.

 

Über diese bereits unter Obama begonnenen „Modernisierungs“- und Aufrüstungsmaßnahmen hinaus hat die Trump-Administration drei weitere problematische atomare Neuentwicklungen eingeleitet. Zum einen die Entwicklung von sogenannten „Mininukes“ mit vergleichsweise geringer Sprengkraft (bis zu einer Kilotonne). Diese sollen in Europa landstationiert werden, um eine laut Trump angeblich bestehende „Abschreckungslücke“ gegenüber Russland zu schließen. Und zweitens begann das Pentagon unter Trump mit der Entwicklung neuer, mit Atomsprengköpfen ausrüstbarer Raketen zur Stationierung auf Kriegsschiffen und U-Booten der USA in den nordatlantischen Gewässern. Mit diesen seegestützten Raketen mittlerer Reichweite könnten die USA die Ziele in Russland erreichen, gegen die nach den bisherigen NATO-Planungen im Fall eines Kriegs Kampflugzeuge mit den in Deutschland, Belgien und den Niederlanden stationierten Atombomben eingesetzt würden. Damit würden die USA die „nukleare Teilhabe“ ihrer europäischen Bündnispartner aushebeln und könnten künftig alleine über den Einsatz von Atomwaffen in Europa entscheiden. Drittens hat der Kongress auf Antrag der Trump-Administration bereits 2017 erste Haushaltsmittel zur Entwicklung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete mit Reichweiten von bis zu 5.500 Kilometern bewilligt. Die tatsächliche Produktion und Stationierung derartiger Raketen würde gegen den 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion vereinbarten INF-Vertrag, den Trump Anfang 2019 vorsorglich gekündigt hat - mit der bis heute nie bewiesenen (aber von der Regierung Putin auch nie eindeutig widerlegten) Begründung, der Vertrag würde bereits von Moskau verletzt.

 

Wird die Biden-Administration den unter Obama eingeleiteten und unter Trump verschärften Kurs der atomaren Aufrüstung fortsetzen oder korrigieren? Dazu gibt es bislang von Biden oder aus seinem Umfeld überhaupt keine Aussagen. Es gibt lediglich die vage Absichtserklärung Bidens, den New-Start-Vertrag zur zahlenmäßigen Begrenzung der strategischen Atomwaffen und ihrer Trägersysteme (U-Boote, Fernbomber und landgestützte Interkontinentalraketen) zu retten. Dieses letzte noch bestehende Rüstungskontrollabkommen zwischen Washington und Moskau läuft am 21. Februar 2021 aus. Bislang haben beide Seiten nicht ernsthaft über ein Nachfolgeabkommen verhandelt. Russlands Präsident Putin schlug im Oktober vor, den New-Start-Vertrag für zunächst einmal zwölf Monate weiterlaufen zu lassen, um Zeit für Verhandlungen zu gewinnen. Doch auf diesen Vorschlag hat sich die Trump-Administration nicht eingelassen. Biden wird das voraussichtlich tun. Doch in Washington gibt es - auch unter Sicherheitspolitikern der Demokratischen Partei - einflussreiche Stimmen, die verlangen, dass in künftige Abkommen über Atomwaffen und ihre Trägersysteme China mit eingebunden werden müsse. Das lehnt Peking bislang kategorisch ab.

 

 Rüstungsausgaben/Konventionelle Rüstung/Rüstungsexporte

 

In den vier Jahren der Trump-Administration erfolgten erhebliche Steigerungen des Militäretats auf zuletzt 738 Milliarden US-Dollar für 2020. Unter den Demokraten in den beiden Kongresskammern leisteten nur wenige nennenswerten Widerstand. Im Senat wurden die Budgets jeweils mit großer Mehrheit der demokratischen Mitglieder verabschiedet. Einige von Bidens KonkurentInnen im Vorwahlkampf der Demokraten kritisierten diese hohen Militärausgaben scharf und stimmten in Senat und Abgeordnetenhaus dagegen. Biden legte sich in dieser Frage bislang zumindest öffentlich nicht fest.

 

Trump bescherte der US-Rüstungsindustrie nicht nur mit den Beschaffungsvorhaben für die eigenen Streitkräfte eine glänzende Auftragslage, sondern auch durch milliardenschweren Rüstungsexporte.Allein bei seiner ersten Auslandsreise im Präsidentenamt,die ihn im Mai 2017 nach Riad führte, vereinbarte Trump Waffenlieferungen an die islamistische Diktatur im Wert von über 250 Milliarden US-Dollar. Es wird in Washington zwar damit gerechnet, daß Biden die saudische und andere Diktaturen nicht mehr so vorbehaltlos unterstüzten wird, wie Trump das getan hat. Aber ob das auch zu mehr Zurückhaltung der USA bei Rüstungsexporten führen wird, bleibt abzuwarten.

 

 Wie sollen die USA mit dem Konkurrenten China umgehen?

 

Wie sich die Rüstungsanstrengungen - im konventionellen wie atomaren Bereich - der global im relativen Machtabstieg befindlichen USA unter der Biden-Administration und darüber hinaus entwickeln, hängt wesentlich von der bislang in Washington (und auch in europäischen Hauptstädten) ungeklärten künftigen Strategie gegenüber dem aufstrebenden Weltmachtkonkurrenten China ab.

 

Soll man trotz aller harten und zunehmenden Interessengegensätze auf Kooperation mit dem strategischen Konkurrenten setzen, zumal bei der Bewältigung globaler Herausforderungen wie der Klimakrise? Oder sind Konfrontation und der Ausbau der militärischen Präsenz der USA im Pazifik sowie im von Peking als „südchinesisch“ reklamierten Asiatischen Meer unerlässlich? Alle Debatten zwischen den Vertretern dieser beiden Positionen führten bereits in den acht Jahren der Obama-Administration zu keinem Ergebnis, wobei die Befürworter des kooperativen Ansatzes zunehmend in die Defensive gerieten, etwa nachdem die chinesische Regierung im Juli 2016 das auf eine Klage der mit den USA verbündeten Philippinen erfolgte Urteil des Internationalen Seegerichtshofes gegen Chinas Besitzansprüche auf Inseln im „südchinesischen Meer“ zurückwies. Inzwischen hat China in Dschibuti, am strategisch günstig Schnittpunkt von Europa, Afrika, dem Nahen Osten und Asien, seine erste ausländische Militärbasis errichtet - gegen den massiven, aber vergeblichen Widerstand der USA und Frankreichs. Der „Handelskrieg“ gegen China, den Trump im Wahlkampf 2016 großspurig angekündigt und dann auch mit Zöllen, Sanktionen und anderen Maßnahmen fast vier Jahre lang geführt hat, ist weitgehend gescheitert - und hat der Wirtschaft der USA mehr geschadet als der Chinas. Die weltgrößte Freihandelszone RCEP mit 15 asiatisch-pazifischen Staaten - darunter die drei US-Verbündeten Japan, Australien und Neuseeland -, die Mitte November unter Führung China besiegelt wurde, ist ein weiterer Rückschlag für die USA, für den Trump hauptverantwortlich ist. In seiner ersten Amtshandlung als Präsident am 21. Januar 2017 hatte Trump die von seinem Vorgänger Obama ausgehandelte asiatisch-pazifische Freihandelszone unter Führung der USA aber unter Ausschluß Chinas aufgekündigt.

 

 NATO/Europa/2-Prozent Ziel bei Militärausgaben

 

„Die NATO ist obsolet“. Mit solchen und ähnlich abfälligen Sprüche über die Militärallianz machte Trump seit seinem Wahlkampf 2016 immer wieder Schlagzeilen. Damit lieferte er Vorwände für PolitikerInnen in Brüssel, Berlin, Paris und anderen europäischen Hauptstädten, die eine Militarisierung der EU anstreben bis hin zu einem eigenständigen, von den USA unabhängigen atomaren Abschreckungspotenzial. Doch mit den realen Interessen der USA hatten Trumps Sprüche nie etwas zu tun. Denn die NATO bleibt auch über 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges für die USA weiterhin das wichtigste Instrument zur Einflussnahme in und Kontrolle über Europa. Das weiß Biden sehr genau. Sprüche wie Trump wird er nicht machen. Doch der Druck aus Washington auf die europäischen NATO-Partner, innerhalb des Bündnisses einen größeren Teil der finanziellen Lasten und militärischen Aufgaben zu übernehmen, wird anhalten. Auch die Biden-Administration wird fordern, dass das 2014 von allen NATO-Staaten einstimmig beschlossene Ziel, die nationalen Militärausgaben bis 2024 auf mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen, fristgemäß umgesetzt wird.

 

 Verhältnis zu Russland

 

„Ich denke, die größte Bedrohung für Amerika ist aktuell Russland, was Angriffe auf unsere Sicherheit und die Spaltung unserer Allianzen angeht“, erklärte Biden in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS neun Tage vor der Präsidentschaftswahl. China stufte er zugleich lediglich als „größten Wettbewerber“ der USA ein. Trumps Antwort auf die CBS-Frage nach dem zentralen Gegenspieler des Landes war unterdessen: China. „Sie sind ein Gegner, sie sind ein Wettbewerber, sie sind in vieler Hinsicht ein Feind.“

 

 Sicher scheint: das seit langer Zeit erkennbare strategische Interesse der USA, gedeihliche kooperative Beziehungen zwischen der EU und Russland zu verhindern, wird unter der Präsidentschaft von Biden fortbestehen. Aktueller operativer Ausdruck dieses Interesses sind die massiven Drohungen und Sanktionen der Trump-Administration gegen das Nord-Stream-2- Pipeline-Projekt, die auch von einer Mehrheit der Demokraten im US-Kongress unterstützt werden. Die Biden-Administration wird möglicherweise noch eintschlossener gegen das Projekt vorgehen. Bereits als Vizepräsident kritisierte Biden die Pipeline als einen „fundamental schlechten Deal“. In einem Positionspapier Bidens zu den künftigen Beziehungen der USA mit Polen wurde diese Haltung nochmal betont: „In Fortführung der von der Obama-Biden-Regierung begonnenen Arbeit wird Präsident Biden versuchen, die Unabhängigkeit Europas im Energiebereich zu stärken.“ Daher werde er „Nord Stream 2 weiterhin als ,fundamental schlechten Deal‘ (...) ablehnen.“ Im US-Kongress haben sich das von den Demokraten dominierte Repräsentantenhaus und der mehrheitlich republikanische Senat bereits auf neue Sanktionen geeinigt. Diese zielen auf Versicherer und Zertifizierungsfirmen für die am Bau der Pipeline beteiligten Unternehmen ab und könnten noch vor Jahresende von den beiden Kammern verabschiedet werden. Die Umsetzung würde dann der neuen Biden-Administration obliegen.

 

Auch gegen die seit 2014 schon unter Obama verhängten Sanktionen gegen Rußland wegen des Ukraine/Krim-Konfliktes dürfte die Biden-Administration festhalten oder diese sogar noch verschärfen. Zumindest gibt es bislang keine Hinweise, dass Biden einen anderen, kooperativeren Kurs gegenüber Russland einschlagen könnte - außer vielleicht mit Blick auf ein Nachfolge-Abkommen für den „New-START-Vertrag“.

 

„Krieg gegen den Terrorismus"/Drohnenmorde/gezielte Tötungen

 

Präsident Biden wird den am 12. September 2001von seinem Vor-Vorgänger George W. Bush erklärten „Krieg gegen den Terrorimus“ mit all seinen völkerrechtswidrigen Methoden (gezielte Tötungen, Drohnenmorde, Folter etc.) uneingeschränkt weiterführen und bei (angeblichem) Bedarf auch noch verschärfen - so wie Barak Obama und Donald Trump das getan haben. Alles andere wäre eine große, positive Überraschung, für die es allerdings nicht das geringste Anzeichen gibt. Dieser seit nunmehr über 19 Jahren geführte „Krieg“ ist inzwischen längst zum Alltag geworden und aus den Schlagzeilen verschwunden. Bei den Demokraten im US-Kongress stieß er nicht nur während der acht Präsidentschaftsjahre von Obama, sondern auch unter den Republikanern Bush und Trump weitgehend auf Unterstützung. Auch die sechs linken KonkurrentInnen Bidens im Vorwahlkampf der Demokraten machten diesen „Krieg“ nicht zum Thema. Die vereinzelte Kritik europäischer Regierungen in den ersten Jahren dieses „Krieges“ - etwa an gezielten Tötungen - ist längst verstummt. Die USA werden auch ihre in Europa gelegene militärische und geheimdienstliche Infrastruktur - wie z.B. die Airbase Ramstein in Deutschland - weiterhin für Drohnenmorde nutzen können. Und auf eine Begnadigung von Edward Snowden, Julian Assange oder Chelsea Manning, die einen Teil der in diesem „Krieg gegen Terrorismus“ verübten Verbrechen von Soldaten und Geheimdienstlern der USA öffentlich gemacht hatten, ist auch unter Präsident Biden nicht zu hoffen.

 

 Rahmenbedingungen für Biden-Administration-Blockade im Senat?

 

Eine große Unbekannte bleiben zumindest bis zur Nachwahl für die beiden Senatorensitze des Bundesstaates Georgia am 5. Januar 2021 die Rahmenbedingungen für die Politik der künftigen US-Regierung. Sollten die Republikaner einen oder gar beide Sitze gewinnen, hätten sie eine Mehrheit von 51 oder gar 52 Stimmen im 100-köpfigen Senat. Und dann könnten sie zahlreiche außen- wie innenpolitische Vorhaben der Biden-Administration blockieren - ähnlich wie sie das in den Jahren der Obama-Administration gemacht haben. Mitch McConnell ,der bisherige und auch künftige republikanische Fraktionschef im Senat, hat bereits angekündigt, dass er genau diese destruktive Strategie der Totalblockade erneut anwenden will, damit Biden in vier Jahren vor den WählerInnen als weitgehend gescheiterter Präsident dasteht und die Republikaner im November 2024 das Weiße Haus zurückerobern können - möglicherweise sogar erneut mit Donald Trump.

 

Andreas Zumach

Europa droht hochgefährlicher atomarer Rüstungswettlauf

Zur Rettung des INF-Vertrages muss Friedensbewegung

Forderung an Washington und an Moskau erheben

Nachdem Anfang Februar  zunächst  die  Trump-Administration in Washington   und dann auch die Regierung Putin in Moskau  den Austritt aus dem INF-Mittelstreckenabkommen von 1987 angekündigt haben, droht ein atomarer Aufrüstungswettlauf in Europa. Er könnte noch weit  gefährlicher werden, als die Aufrüstung mit sowjetischen SS-20 sowie US-amerikanischen Pershing 2 und Cruise Missiles in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Entsprechende Ankündigungen, Drohungen und Forderungen  sind bereits zu hören aus Washington, Moskau sowie in der innenpolitischen Debatte in Deutschland und anderen europäischen NATO-Staaten.

 

 

Die Debatte wird mit zum Teil wortgleichen Behauptungen, Rechtfertigungen und Argumenten geführt, wie die  Kontroverse Ende der 70/Anfang der 80er. Damals demonstrierten in der bis dato größten Friedensbewegung seit dem 2. Weltkrieg Millionen von Menschen in Westeuropa - darunter  auch in der Schweiz - in den USA und schließlich auch in der DDR und anderen osteuropäischen Ländern gegen „Geist, Logik und Politik der atomaren Aufrüstung und Abschreckung“ und blockierten die Stationierungsorte für atomare Raketen. Diese Friedensbewegung  trug wesentlich dazu bei, daß die Präsidenten der USA und der damaligen Sowjetunion, Ronald Reagan und Michail Gorbatschow am 7. Dezember das INF-Abkommen über das Verbot landgestützter, mit Atomsprengköpfen bestückbarer  Kurz-und Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5.500. In Umsetzung dieses Abkommen verschrotteten Washington und Moskau ihr gesamtes, fast ausschließlich auf dem eurasischen Kontinent stationiertes  Arsenal von insgesamt rund 2.700 Atomwaffen dieser Kategorie.

 

 

Noch bleibt Zeit zur Rettung des INF-Vertrages

 

 

In Kraft treten die Austrittsankündigungen der USA und Rußland allerdings erst am 2.August. Bis dahin sind noch sechs Monate Zeit, diesen hochgefährlichen Rückschritt in eine Zukunft mit wieder erhöhter Atomkriegsgefahr noch zu verhindern. Das kann - wenn überhaupt - aber nur gelingen, wenn die Friedensbewegung politischen Druck macht auf beide Seiten - sowohl auf die Regierungen der USA und der europäischen NATO-Verbündeten wie auf die Regierung Putin in Moskau. Das Wichtigste ist hierbei die Forderung nach einer möglichst baldigen  umfassenden, seriösen Überprüfung der gegenseitigen Vorwürfe aus Washington und Moskau (siehe Kasten). Denn diese Vorwürfe sind  auf beiden Seiten bislang nur Behauptungen, die weder überzeugend belegt noch widerlegt sind. Zur Überprüfung sollten die Regierungen Trump und Putin die weitreichenden Inspektions- und Kontrollmechanismen des INF-Abkommens  wieder in Kraft setzten und anwenden. Mit diesen im Dezember 1987 für die Laufzeit von 13 Jahren vereinbarten Mechanismen überwachten sich beide Seiten   gegenseitig zunächst beim Abzug und der am 31. Mai 1991 abgeschlossenen Verschrottung aller unter das INF-Abkommen fallenden Atomwaffen. Und in den folgenden zehn Jahren  bis zum 31. Mai 2001 dienten diese Mechanismen der Sicherheit  und dem Vertrauen beider Seiten, daß die jeweils andere Seiten keine neuen Typen der unter das INF-Verbot fallenden  Kategorie von Atomwaffen entwickelt. Dieses gegenseitige Vertrauen hielt auch noch für weitere 13 Jahre vor. Erst 2014 erhoben die USA -noch unter Präsident Barack Obama - erstmals informell den Vorwurf, Rußland verstoße mit der Entwicklung einer neuen Mittelstreckenrakete gegen das Abkommen. Die Regierung Putin machte  denselben Vorwurf gegen die inzwischen  mit Unterstützung der NATO vollzogene Stationierung von „Raketenabwehrsystemen“ der USA in Rumänien und Polen.

 

 

Blinde Vasallentreue der europäischen NATO-Regierungen

 

 

Die Regierungen der europäischen NATO-Verbündeten haben die Vorwürfe der USA an die Adresse Moskaus ohne ausreichende Prüfung übernommen. Bei der NATO-Außenministertagung Anfang Dezember 2018 stellten sie sich hinter das 60-Tagesultimatum, mit dem US-Außenminister Mike Pompeo die Regierung Putin damals aufforderte, die behaupteteVertragsverstöße bis zum 2. Februar zu korrigieren. Und nur wenige Stunden nach der Ankündigung des Austritts der USA durch Pompeo am 1. Februar stellten sich die NATO-Verbündeten in einer gemeinsamen Erklärung sofort hinter dieser Schritt. Mit dieser vorschnellen, vasallentreuen Soldaritätsadresse haben sich die europäischen Regierungen ihre Einflußmöglichkeiten sowohl in Washington wie in Moskau zunächst einmal sehr geschwächt.Und angesichts dieser Solidaritätsadresse mit der Trump-Administration sind die Beteuerungen des sozialdemokratischen deutschen Außenministers, Heiko Maaß und anderer Mitglieder europäischer NATO-Regierungen, sie seien „gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen „ in ihren Ländern wenig glaubwürdig.  Und ganz wie in den 80er Jahren kritisieren PolitikerInnen von CDU/CSU in Deutschland sowie konservativen Partein in anderen Ländern derartige Beteuerungen „als grundfalsch“und  als „Verrat an der Bündnistreue in der NATO“ . Sie  fordern „alle Optionen, inklusive der Stationierung neuer atomarer Mittelstrenraketen in Europa“ müßten jetzt auf den Tisch. Nur auf diese Weise sei Russland zu „Konzessionen“, zu "Verhandlungsbereitschaft“ und zur „Korrektur der Verstöße gegen den INF-Vertrag“ zu bewegen. Deja-vu der 70er und 80er Jahre. Der  deutsche grüne Außenpolitiker und ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin ist bislang einer der wenigen, der auch die Vorwürfe Russlands an USA und NATO berücksichtigt. Trittin forderte „ eine Abrüstungsinitiative, um den Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu sichern" und regelte eine neue Variante des Doppelbeschlusses von 1979 an. Die Nato solle Russland anbieten, auf die US-Raketenabwehrsysteme in Europa zu verzichten und die taktischen Atomwaffen der USA aus Deutschland und anderen europäischen Staaten abzuziehen. Im Gegenzug müsse Russland ebenfalls bei den bereits in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen (die mit Reichweiten von knapp 500 Kilometern auch die NATO-Mitglieder Polen sowie die drei baltischen Staaten erreichen können) sowie bei Marschflugkörpern abrüsten.

 

 

Hochgefährliche Atomwaffen in der Pipeline für ein neues Wettrüsten

 

 

In den 70er Jahren erregte zunächst im Westen die sowjetischen Mittelstreckenraketen vom  SS-20  besondere Sorge, weil sie in großer Zahl westlich des Ural stationiert waren. In der Reichweite der SS-20 lagen das gesamte  Territorium der damals ausschließlich westeuropäischen NATO-Staaten. Die NATO reagierte Ende 1979 mit ihrem „Doppelbeschluss“, der die Stationierung neuer Pershing 2-Raketen und von Cruise Missiles androhte, falls Moskau die SS-20-Arsenale nicht abrüste. Ab Ende 1983 wurden die Atomwaffen der USA in Deutschland, Italien, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien stationiert. Die bereits lange vor dem Doppelbeschluß entwickelte Pershing 2  hätte wegen ihrer hohen Geschwindigkeit und Präzision acht  Minuten nach Abschuß von ihren drei Stationierungsorten in Baden-Württemberg Ziele bei Moskau erreichen und zerstören könnte. Mit einer ausreichenden Zahl von Pershing 2 hätten die USA einen Enthautpungsschlag gegen sowjetische Raketenstellungen führen können. Entsprechende Befürchtungen wurden  noch bestärkt durch Strategiekonzepte aus der damaligen Administration von US-Präsident Ronald Reagan, in denen eine solcher Enthauptungsschlag und das Szenario eines auf Europa begrenzten Atomkrieges erörtert und befürwortet wurden.

 

 

Die Waffensysteme, die jetzt  in den USA und Rußland in der Pipeline sind für einen neuen atomaren Rüstungswettlauf in Europa, lassen die Pershing 2 und die SS-20 alt aussehen. Der US-Kongreß bewilligte der Trump-Administration bereits für das Haushaltsjahr 2018 eine erste Tranche von 500 Millionen Dollar zur Entwicklung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete, die die technologischen Fähigkeiten der Pershing -2 deutlich übertreffen soll hinsichtlich Geschwindigkeit, Präzision, Zerstörungskraft, Steuerungsfähigkeit und der Möglichkeit, nicht nur feste, sondern auch bewegliche Ziele zu treffen. Denselben „Fortschritt“ bringen auch die bereits in der Produktion befindlichen Nachfolgemodelle für die atomaren Fallbomben vom Typ B61-12, die die USA ab 2020 auf ihren Militärbasen im deutschen Büchel in der Eifel,sowie in den Niederlanden und Belgien stationieren wollen. Diese „Modernisierungsmaßnahme“ wird von allen  NATO-Bündnispartnern der USA ausrücklich unterstützt. Hinzu kommen neue Atomwaffen mit niedrigerer Sprengkraft - sogenannte „Mininukes“ - deren Produktion und Stationierung in Europa US-Präsident Donald Trump bereits Anfang 2018 angekündigt hatte. Laut Trump sollen diese Waffen mit einer Sprengkraft von immerhin noch einem Mehrfachen der Hiroshima-Bombe, eine  derzeit angeblich bestehende „Abschreckungslücke“ gegenüber Rußland schließen. Moskau müsse überzeugt werden, daß die USA selbst bei einem rein konventionellen Angriff Rußlands etwa auf Polen oder die baltischen Staaten (eine Gefahr, die von der NATO seit der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim  behauptet wird) bereit und in der Lage sind, atomar zu reagieren.

 

 

Der russische Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergey Schoigu kündigten Anfang Februar die Entwicklung und Stationierung neuer landgestützter Mittelstreckenraketen an sowie von Abschußgeräten für Kalibr-Raketen, die bislang auf Schiffen stationiert sind, und daher nicht unter das Verbot des INF-Vertrages fielen.Die neuen Raketen und Abschußgeräte sollen bis Ende 2021 einsatzbereit.   Außerdem betreibt Rußland laut Putin die Entwicklung von Hyperschallraketen mit größerer Reichweite, die mit mindestens fünffacher Schallgeschwindigkeit auf ihr Ziel zusteuern. Den Prototyp einer neuen Interkontinentalrakete mit Hyperschallgeschwindigkeit hatte Rußland bereits 2018 vorgestellt.

 

 

Das endgütige Ende des INF-Vertrages würde aber nicht zur zu einem neuen gefährlichen atomaren Rüstungswettlauf der USA und Russlands in Europa führen, sondern auch global. Die Chance, daß sich Washington und Moskau dann noch auf ein Nachfolgeabkommen für den 2021 auslaufende START-Vertrag mit zahlenmäßigen Obergrenzen für strategische Atomsprengköpfe und ihre Trägersysteme (Interkontinentalraketen, U-Boote, Langstreckenbomber) einigen können, werden von Rüstungskontrollexperten als Minimal beurteilt. Bislang haben Washington und Moskau noch nicht einmal Verhandlungen über ein START Nachfolgeabkommen aufgenommen. Im schlimmsten Fall könnte es auch zu einer Aufkündigung des atomaren Teststoppabkommens .Und sollten die USA und Rußland wieder ungehemmt atomar aufrüsten entgegen ihrer Verpflichtungen  aus dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (NPT), wird auch dieses Abkommen von den 186 Staaten, die seit 1970 mit ihrer Unterzeichnung des NPT  auf die Entwicklung und den Besitz von Atomwaffen  verzichtet haben, immer stärker in Frage gestellt werden.

 

 

Eine neue Eskalation der atomaren Aufrüstung in den USA und Russland wird zudem auch zu entsprechenden Anstrengungen in China führen sowie in der Folge dann auch den beiden inoffiziellen Atomwaffenstaaten Indien und Pakistan.

 

 

China, Indien, Iran und andere einbinden?

 

 

Als US-Präsident Trump den Austritt aus dem INF-Abkommen im Oktober 2018 erstmals androhte, benannte er zur Rechtfertigung neben angeblichen Vertragsverstößen Russlands auch die heutigen Mittelstreckenraketen in China, Indien, Iran, Nordkorea und anderen Ländern, die bei Abschluß des INF-Vertrages im Dezember 1987 noch nicht existierten. Alleinchina verfügt heute über rund 2.000 Mittelstreckenraketen, die mit Reichweiten von über 2.000 Kilometern US-amerikanische Ziele im Pazifik udn im asiatischen Meer erreichen können. Trump forderte, der bilaterale INF-Vertrag zwischen Washington und Moskau müsse multilateralisiert und auf  China und andere Länder ausgeweitet werden, forderte Trump. Das ist aus friedens-und rüstungskontrollpolitischer Sicht durchaus eine richtige Forderung. Nur ist die Zerstörung des bestehenden bilateralen INF-Vertrages mit Sicherheit der falsche Weg, um zu einem multilateralen Abkommen zu gelangen.

 

 

Die Trump-Administration rechtfertigt ihren Ausstieg aus dem INF-Abkommen mit dem Vorwurf, Rußland habe unter Verstoß gegen den Vertrag eine neue landgestützte Mittelstreckenrakete vom Typ 9M729 (Nato-Code: SSC-8)   entwickelt mit Reichweiten bis 2.600 Kilometer. Rußland habe bereits 64 dieser Raketen stationiert an vier verschiedenen Standorten (bei einem Ausbildungsbataillon auf dem südrussischen Testgelände Kapustin Jar und  einem Bataillon in Kamyschlow östlich von Jekaterinburg sowie auf einem Militärstützpunkt in Schuja bei Moskau  und in Mosdok in Nordossetien), verbreiteten Medien in Deutschland, den USA und anderen NATO-Staaten am 10. Februar unter Berufung auf nicht näher spezifizierte „westliche Geheimdienstkreise".

 

 

Moskau bestreitet den Vorwurf der Vertragsverletzung und erklärt, die neue Rakete bleibe mit lediglich 480 Kilometern Reichweite unterhalb der Verbotsgrenze des Abkommens. Umgekehrt behauptet Rußland, die USA würden mit ihrem im rumänischen Deveselu sowie in Polen stationierten Raketenabwehrsystem vom Typ Aegis Ashor gegen das INF-Abkommen verstoßen. Denn die Startgeräte vom Typ MK 41 für die Abwehrraketen würden die USA auch auf Kriegsschiffen verwenden für den Abschuß von seegestützten Marschflugkörpern vom Typ Tomahawk. Daher, so Moskau, könnten diese Marschflugkörper auch von dem landstationierten System in Rumänien abgeschossen werden. Washington bestreitet dies.

 

 

 

 

 

 Karl Barth

   

Predigt über Hebräer 4,9-10  

               

Über das Sterben

 

 

„Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes. Denn wer zu seiner Ruhe gekommen ist, der ruhet auch von seinen Werken, gleichwie Gott von seinen. So lasset uns nun Fleiß tun, einzukommen zu dieser Ruhe.“

 

 Liebe Freunde!

 

Heute wollen wir vom Sterben reden. - Ein trauriger Gegenstand!, denken jetzt vielleicht Manche von euch und Manche vielleicht: o wäre ich heute nicht in die Kirche gekommen, wenn ich nun davon hören soll! Warum von dem reden, was so düster ist, so schwere Gedanken macht und was ja doch einmal kommt, wenn es sein muß? Aber seht, das ists ja gerade, weshalb wir davon reden müssen. Warum soll es denn etwas Trauriges sein, ans Sterben zu denken und [davon] zu reden? Wenn es so ist, dann sind wir böse dran. Dann ist wohl unser ganzes Leben heimlich etwas Trauriges? Denn nicht wahr, das Sterben gehört doch zum Leben, ob wirs nun wollen oder nicht. Unaufhaltsam gehen wir dem Tode entgegen. Wir sind Sterbende, indem wir leben. Irgendwo, früher oder später, wartet auf uns ein Ende. Und das Ende heißt: ein weißes Totenbett, ein Sarg, ein Grab. Du hast es bei Anderen schon oft gesehen, wie das ist, einmal wird es dann auch bei dir so sein. Wenn das etwas Trauriges, Düsteres, Schreckliches ist, dann ist es freilich schlimm. Denn das ist nun so, ob wir daran denken oder nicht. Dann ist wohl überhaupt auf dem Untergrund unseres Lebens eine große Traurigkeit verborgen, die wir nie ganz loswerden - die Traurigkeit darüber, daß dieses Ende einmal auf uns wartet. Und in unser Arbeiten und Schaffen, in unser Lachen und Singen hinein mischt sich heimlich der Giftgedanke: Alles hört einmal auf, und dann mußt du sterben. Wir unterdrücken ihn, und er ist doch da. Wir bringen ihn zum Schweigen, und er stört uns doch beständig. Er ist der Fremdling in unserem Blut, der uns, ob wirs wollen oder nicht, nicht zur Ruhe kommen läßt. Ob wir wohl gut tun, uns nun vorzunehmen, nicht mehr daran zu denken? Ob damit etwas besser wird?|

 

 Die Zeitungen berichten uns alle Tage von dem plötzlichen Sterben von Tausenden und Abertausenden. Durch den Krieg ist der Tod auf einmal eine wichtige Sache für Millionen geworden. In endlosen Reihen liegen sie bereits da draußen unter fremdem Rasen gebettet, und endlose Reihen müssen ihnen noch folgen. Eine Kugel kam geflogen, gilt sie mir oder gilt sie dir?  Wie wollen wir uns eigentlich dazu stellen? Das Lied vom Sterben ertönt jetzt so eindringlich durch die Welt, daß wir es fast hören müssen, und unwillkürlich antwortet ihm eine Stimme tief aus unserem eigenen Inneren, auch wenn wir fern sind von Krieg und Kriegsgefahr:

 

wer weiß, wie nahe mir mein Ende,

 hin geht die Zeit, her kommt der Tod,

 ach wie geschwinde, wie behende,

 kann kommen meine Todesnot! 

 

Das ist doch schlimm, wenn wir darauf nur immer nichts Anderes zu antworten wissen als: das ist traurig, laßt uns nicht mehr daran denken! Das ist ja im Grunde eine Feigheit, und aus einer Feigheit kann schwerlich etwas Gutes entstehen. Und die Feigheit entsteht aus einer Unwahrheit: wir wollen uns nicht eingestehen, was nun doch einmal so ist. Die Lüge aber hat noch immer das Leben verdorben. Wir verschleiern und verhüllen etwas, aber wir täuschen niemand als uns selber. Die Unruhe bleibt, und die Traurigkeit unserer Seele, die vor dem Sterben zittert, wird größer und größer. Warum wollen wir eigentlich nicht mutig sein und der Wahrheit die Ehre geben?

 

Das Sterben etwas Trauriges?! Ja, für den gedankenlosen Menschen. Für den, der gewohnt ist, nicht über das Nächstliegendste hinauszusehen und zu sinnen. Die Gedanken, das innere Leben sind es, die den Menschen reich machen, die ihm Halt geben. Alles Andere, was uns beschäftigen und erfreuen kann, ist eigentlich nur Zubehör des Lebens, ist nur der äußere Apparat, nicht das Leben selbst. Der lebt wirklich, dem die Quelle des inneren Lebens fließt, der etwas weiß von dem Leuchten der Gedanken. Wo das fehlt, da muß freilich der Tod etwas Schreckliches sein. Gleichgültig und träge floß das Leben dahin, eine einzige lange Dämmerung, ohne einen tiefen Grund, ohne ein großes Ereignis, ohne eine wertvolle Erkenntnis. Und nun kommt in dies Leben etwas so Ungeheures hinein: das Ende, das völlige Ende. Die Uhr ist abgelaufen. Still steht der murmelnde Bach. Heraus heißts auf einmal, aus allem Gewohnten, heraus - und was nun? wohin? Arme Menschen sind wir, wenn wir so leer sind und der Tod als das erste Große über uns hereinbricht. Dann sind wir ihm freilich nicht gewachsen, dann können wir freilich nichts tun als vor ihm Angst haben schon im Voraus.|

 

Etwas Trauriges ist das Sterben auch für alle kurzsichtigen Menschen. Das sind die, die sich zwar Gedanken machen über das Leben, aber es sind Gedanken ohne Flügel: sie vermögen nicht in die Höhe zu steigen, und es sind Gedanken ohne Schwerkraft: sie vermögen nicht in die Tiefe zu dringen. Und nun sinnen sie wohl auch über den Tod nach, aber sie sehen immer nur seine irdische, menschliche, natürliche Seite: sie umsorgen die Leiden, die dem Tode vorangehen können, und den bitteren Todeskampf, sie seufzen beim Gedanken an Alles, was sie zurücklassen müssen, sie werden tief wehmütig, wenn sie sich sagen, wie schnell man sie nach den ersten Zeiten der Trauer wird vergessen, wie leicht man es bald ohne sie wird machen können. Das ist ja alles ganz wahr, das wartet auf uns, und wir tun gut, es im Voraus zu überdenken, daß es so sein wird. Aber was für arme Menschen sind wir, wenn wir über diese Dinge nicht hinauszusehen vermögen! Es ist nicht damit getan, daß wir sinnen und studieren. Viele Menschen studieren nur zu viel. Es müssen große Gedanken sein, die uns bewegen. Und ob es große Gedanken sind, das bewährt sich gegenüber dem Tode. Wer immer nur über seine eigenen Schmerzlein und Freudlein studiert hat, der kann ja nicht anders, er muß vor dem Sterben Angst haben.|

 

 Und traurig ist der Gedanke an den Tod auch für alle kleinen Menschen. Ich meine jetzt damit die, die nicht nur von kleinen Gedanken und Gefühlen, sondern auch von einem kleinen Wesen erfüllt sind. Klein ist die Trägheit und die Eitelkeit, klein ist das Geschwätz und der Zank, klein ist der Hochmut und der Geiz, klein ist die Lüge und die Leidenschaft. Klein ist unser natürliches Wesen, solange wir uns selber noch nicht erzogen haben. Klein ist alles das an uns, was wir mit den Tieren gemeinsam haben, worin wir mit dem Tiger oder mit dem Affen auf einer Stufe bleiben. Wo kleines Wesen ist, da ist Furcht vor dem Tod. Es kann nicht anders sein, denn der Tod ist gewaltig groß. Vor ihm erscheint alles Kleine erbärmlich klein. Er nimmt uns gerade alles das weg, woran wir uns natürlicherweise klammern: das liebe warme Leben läßt er erlöschen in grausamer, starrer Kälte, das liebe brauchbare Geld bleibt zurück und hilft uns so wenig mehr, als ob es Kieselsteine wären, was hilft Freude, Ansehen und Einfluß und was wir sonst so wichtig nehmen und um was wir sonst eifern mögen, wenns zum Sterben geht? Der Tod gebietet allen diesen Trieben Halt, indem er ihnen den Stoff und die Nahrung und den Atem nimmt. Der Tod setzt dem Tierischen in uns ein Ziel. Und wenn das nun unser Alles ist? Und wenn wir nun kleine Menschen sind? Dann haben wir freilich Anlaß, uns vor dem Sterben zu fürchten, dann ists wirklich etwas Trauriges, an das wir lieber nicht denken, das wir mit Recht auf die Seite schieben, solange wir können.

 

 

Gedankenlosen, kurzsichtigen, kleinen Menschen ist der Gedanke ans Sterben ein trauriger Gedanke. Aber was sind denn das für Menschen? Das sind die Menschen, denen Gott fehlt. Alles das, was ihnen fehlt: inneres Leben und große Gedanken, Würde und Freiheit - das alles ist doch Gott, das alles fließt aus ihm in tausend lebendigen Bächen. Sein ist die Herrlichkeit und die Kraft. Die Herrlichkeit, denn in ihm ist der Reichtum alles Wahren, Großen und Guten, aus dem wir in unserer Armut auch reich werden können, immer aufs neue. Und er ist die Kraft, denn er will und wirkt das Gute. Er befiehlt, so geschieht es, er gebietet, so steht es da [ Ps 33, 9]. Wer gedankenlos, kurzsichtig, klein ist, dem fehlt nicht irgend etwas, dem fehlt Gott, dem fehlt die Quelle des Lebens [vgl. ps 36, 10]. Ihm mangelt es an Orientierung und Überblick über sein Dasein. Unbedeutende Dinge sind ihm unendlich wichtig, und unendlich wichtige sind ihm unbedeutend. Fremd steht er gewissen Erlebnissen gegenüber, er weiß nichts damit anzufangen, wie Felsblöcke aus der Urzeit liegen sie auf seinem Weg. Er erlebt eine große Freude oder ein ebenso großes Unglück, er begegnet einem hervorragenden Menschen, oder es wird ihm eine besonders schwere Aufgabe gestellt. Aber bei dem allen merkt und erfährt er nichts, er hat keinen Segen davon, er ist dem allen nicht gewachsen, dem einen so wenig wiedem anderen. Vor Allem ist er dem Sterben nicht gewachsen, dem ungeheuersten Erlebnis, das unser aller wartet. Wie ein steinerner Klotz wartet der Tod auf ihn. Er kann ihn nicht umgehen, ihm nicht ausweichen, und doch versteht er ihn nicht, [er] ist ihm fremd und ungeheuerlich, er gehört nicht zu seinem Leben, sondern liegt gleichsam draußen als etwas Unnatürliches, als etwas, was nicht sein sollte, gegen das er sich mit aller Kraft sträuben möchte. Und darum fürchtet er den Tod. Wir fürchten ja immer das, was uns fremd ist, was wir nicht verstehen. Es kann nicht anders sein, wenn uns Gott fehlt, wenn wir die Quelle nicht kennen, aus der das Leben kommt, und die Fähigkeit zu leben.

 

 

 Denn was heißt eigentlich Leben? Leben heißt doch eben nicht nur da sein, seine Tage zubringen einen um den anderen, seine guten und schlimmen Erfahrungen machen mit mehr oder weniger Glück und Verstand. Gegen diese Lebensauffassung sträubt sich das Tiefste und Beste, was in uns ist. Sondern leben heißt ein Meister sein. Leben heißt orientiert sein, heißt, sein Dasein überblicken und etwas daraus zu machen wissen. Leben heißt sein Dasein zu einem Ganzen gestalten, daß da nichts Fremdes und Unnatürliches und Feindseliges übrigbleibt, sondern daß Alles verstanden und verarbeitet wird zu einem Gewinn, zu einem Segen. Wo ein Erlebnis noch so als ein Felsblock daliegt auf unserem Weg, ohne daß wir wissen, was wir damit machen sollen, da soll es uns ein Zeichen sein, daß wir noch nicht völlig wissen, was Leben ist. Wo noch etwas so gleichsam draußen liegt, noch nicht zu uns gehört, da muß es hereingenommen, da muß es unser Besitz werden, wenn unser Leben wahrhaft Leben sein soll.

 

Und damit das alles sei, damit wir leben können, dazu müssen wir Gott haben. Gott haben heißt einen Meister haben. Und darum dann auch ein Meister sein. Denn wer in Gottes Schule oder Werkstatt steht, der ist schon als Lehrling Meister. Will sagen: er kann etwas, er kann leben. Er tappt nicht ins Ungefähre, er erschrickt nicht und strauchelt nicht, sondern er versteht und begreift, er weiß, was hinter den Dingen ist, so seltsam sie auf den ersten Blick anmuten mögen. Er weiß das Hohe, Freudige, Schöne daraus zu nehmen und sich zur Bereicherung, zum Segen werden zu lassen. Wer Gott hat, der hat den Schlüssel zum Leben und seinen Rätseln und Geheimnissen. Nach und nach, aber sicher und klar müssen sie alle sich ihm auftun. Immer weniger bleibt ihm liegen von solchen Blöcken, mit denen man nichts anzufangen weiß, immer weniger bleibt draußen, immer weniger erscheint fremd und unnatürlich. Immer mehr wird verarbeitet, hereingenommen, wird ein Teil des Ganzen, ein Teil unseres Lebens, das dazugehört und nicht fehlen darf. Meine Freunde, wenn wir Gott haben, der die Herrlichkeit und die Kraft ist, wenn wir die Quelle des Lebens kennen, dann lernen wir auch den Tod, das Sterben verstehen, dann wird auch der Tod zu einem Teil unseres Lebens, der nicht mehr fremd und beängstigend da draußen liegt, sondern den wir hineingenommen haben, der zu uns gehört. Er ist uns dann nichts Schreckliches mehr, und der Gedanke an ihn macht uns nicht trauriger als der Gedanke an irgend ein anderes Erlebnis, das hinter uns oder vor uns liegt.

 

Denn wenn wir erwacht sind und die Erfahrung gemacht haben, daß wir Gottes Kinder sind, wenn wir Gottes Freunde geworden sind, dann ist uns vor Allem das Eine ganz sicher: Gott stirbt nicht! Wer ihn gesehen hat, der hat den gesehen, der Unsterblichkeit hat [vgl. 1. Tim 6, 16]. Die Natur ist ein großes Sterben. Der Herbst, der Winter, in den wir jetzt eingetreten sind, redet uns vom Sterben und von nichts als vom Sterben. Jede Pflanze, jedes Tierlein, aber nicht nur sie, die Gestirne des Himmels, die Sonne so gut wie unsere Erde, sie haben ihr Dasein eine Zeitlang, und danach ist es aus mit ihnen. Um wieviel mehr das Menschenleben, unser kleines Dasein zwischen Geburt und Tod. Es ist uns gesetzt, einmal zu sterben [vgl. Hebr 9, 27]. Unser körperliches Leben wartet darauf, ob wir ihm einen geistigen Inhalt geben, dann verlöscht es wie Alles in der Welt. Gott stirbt nicht. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit. [note]

 

Und ob Alles in ewigem Wechsel kreist,

Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist. 

 

Wie könnte die Wahrheit vergehen, und wie könnte die Gerechtigkeit und die Liebe sterben? Sie sind der Inhalt der Welt, während alles Andere sich wandelt und vergeht in geheimnisvollem, endlosem Wanderzug. Gottes Herrlichkeit und Kraft steht über Leben und Sterben. Gott sieht den Tod kommen und gehen, er berührt ihn nicht, Gott steht über ihm.

 

 Und nun geht von Gott aus Unsterblichkeit hinein in die Welt. Er behält sein unvergängliches Wesen nicht für sich. Er ist nicht geizig mit dem, was ihn auszeichnet vor Allem, was da ist. Sondern er läßt seine Liebe hineinleuchten in den Strom des Vergänglichen und läßt seinen ruhigen Geist ausgehen und immer wieder ausgehen, ob er nicht Seelen finde, die nach ihm begehren und ihn aufnehmen. Und wo dann seine Liebe einen Widerschein findet und sein Geist eine Heimat, da kehrt Gott selber ein, und da heißt es nun mitten in der Vergänglichkeit: Gott stirbt nicht. Unvergleichlich machtvoll ist der ewige Gott in Jesus Christus in die vergängliche Welt hineingetreten, unvergleichlich kräftig hat da seine Liebe und sein Geist Einlaß begehrt, und wo man ihn gehört und ihm aufgetan hat, da ist es geschehen, daß dem Tode die Macht genommen und Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht wurden [vgl. 2. Tim 1, 10]. Wer an ihn glaubt, der lebt, ob er gleich stürbe [ Joh 11, 25]. Er lebt, weil Gott lebt. Und weil Gott nicht stirbt, so kann dann auch Gottes Kind nicht sterben.

 

Meine Freunde, Erben der Unsterblichkeit Gottes - denkt, was das sagen will. Wir sollen über dem Tod stehen, wie Gott darüber steht. Von sicherer Warte aus sollen wir hinaussehen in den ewigen Wandel der Welt als solche, die eine Heimat haben. Inmitten der Jahrtausende, der unendlichen Welträume, in denen nichts Bleibendes ist, sollen wir uns geborgen fühlen, geborgen in Ewigkeit. Wir sollen den Tod kommen, aber auch wieder gehen sehen. Ja, was ist uns dann der Tod, wenn Gott seinen Bund mit uns geschlossen, wenn wir ihn aufgenommen haben? Wenn er unser Meister geworden ist und wir selber begonnen haben, Meister zu werden über das Leben? Das ist jetzt vor allem Andern sicher, der Tod hat für uns dann keinen Schrecken mehr. Er hört auf, etwas so außerordentlich Wichtiges zu sein, denn wir wissen, vor Gott kann er auf die eine oder andere Weise nichts Anderes sein als ein Übergang. Wir spüren: das eigentliche Leben, das in uns, was wahrhaft Leben zu heißen verdient, das wird von ihm nicht berührt. Wir fürchten uns nicht mehr, denn das eigentlich Lebendige in uns, das wirklich Wertvolle und Große in unserem Dasein, das kann durch den Tod nicht getroffen werden. Was da endigt und zerfällt, das ist nur eine Form. Die Form aber mag zerfallen, was hats dann für Not? Und so ist dieses Zerfallen und Endigen eigentlich ein Schein, ein Schatten. Je lebendiger wir werden am inwendigen Menschen, als Kinder Gottes, desto gelassener werden wir dem Sterben gegenüber. Wir wollen uns nicht zu rasch einbilden, wir seien so weit - so wie wir jetzt sind, muß uns das Sterben etwas furchtbar Ernstes sein - aber es hat Menschen gegeben, die so weit kamen, daß sie des Todes lachen konnten: Tod, wo ist dein Stachel [ 1. Kor 15, 55]! Trutz, Tod, komm her, ich fürcht dich nicht!  Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat [ 1. Kor 15, 57]. Das waren solche Menschen, die Gottes so sicher geworden waren, daß sie über das Sterben denken konnten, wie Gott darüber denkt, daß sie es auffassen konnten als ein kleines Hindernis auf unserem Weg, das aber eigentlich als Hindernis gar nicht in Betracht kommt, als eine natürliche Angelegenheit, wo es gar nichts zu fürchten gibt, eine Schwelle, die man leichten Schrittes überschreitet, wie man von einem Zimmer ins andere geht. Das mag uns sehr merkwürdig vorkommen, solange uns Gott noch fehlt. Und es ist doch nicht anders: von Gott aus kommen wir zu dieser Gelassenheit. Was ist denn Sterben für den, der das Leben gefunden? Was ist denn der Tod für den, der im Ewigen lebt?

 

Aber Gelassenheit ist doch nicht das höchste und letzte Wort dem Sterben gegenüber. Wir hören von der Todesverachtung der alten Römer oder der modernen Japaner, wir bewundern sie, aber wir trauen ihr doch den rechten Wert und die rechte Tiefe nicht zu. Wir beobachten auch unter uns häufig eine gewisse Gleichgültigkeit gegen den Tod, die mit Lebensüberdruß und Todesangst eigentlich mehr Ähnlichkeit [hat] als mit der feinen majestätischen Art, in der Gott über dem Tode steht. Wenn wir uns von Gott erlösen lassen, so führt er uns weiter als bloß dahin, daß uns das Sterben gleichgültig wird. Verachtet denn Gott den Tod?, müssen wir fragen. Man verachtet einen Feind, der Tod ist aber kein Feind Gottes. Der Tod wie das Leben sind doch gleicherweise in Gottes Hand, ja, sie sind ihm gleich liebe Kinder, beide mit ihrem besonderen Beruf. Tiefsinnig erzählt uns die Bibel, wie Gott nach vollbrachter Schöpfung ruhte von allen seinen Werken [ Gen 2, 2]. Beides gehört zu Gott: seine Schöpfung, das ist das Leben, das Entstehen und Bewegen und Dasein aller Dinge, seine Ruhe, das ist das Vergehen, das Sterben, der Tod. Gottes Schaffen muß sich vollenden in der Ruhe, und diese Ruhe ist doch kein Ende, sondern ewig der Anfang neuen Schaffens. So muß alles Leben sich vollenden im Tod, und doch ist der Tod nicht das Ende, sondern die Verheißung neuen Lebens. So steht Gott wahrhaftig über Tod und Leben. Er braucht in Ewigkeit beide. Wir stehen hier an der äußersten Grenze dessen, was unser Verstand noch denken kann, ohne in Phantasien hineinzugeraten. Aber soviel dürfen wir vielleicht doch noch sagen: Was wir als zwei verschiedene, aufeinanderfolgende Vorgänge betrachten: das Leben und das Sterben, das sind vor Gott nur zwei verschiedene Seiten seines einen gewaltigen Gotteswillens: indem Gott ruht von seinen Werken, ist er in mächtigster Tätigkeit, und all sein Schaffen, alles Drängen, alles Ringen ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.  Er, der Ewige, umfaßt sie mit einem Blick, und in Ewigkeit wirkt er Beides: im Leben den Tod und im Tode das Leben. Das Kreuz Christi zeigt uns Gottes Gedanken jedem Kinde faßbar: da hat das reinste, beste Leben endigen müssen im Tod, damit aus dem Tode das Leben hervorgehe.

 

So dürfen wir dem Sterben mit mehr als Gelassenheit entgegensehen. Das Leben und Sterben Jesu, in dem uns Gottes Absichten so deutlich entgegentreten, sagt uns nicht nur: es macht nichts!, sondern: der Tod ist verschlungen in den Sieg [ 1. Kor 15, 55]. Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes, und wer zu seiner Ruhe gekommen ist, der ruhet auch von seinen Werken, gleichwie Gott von den seinen. Wie zwei Brüder, die einatmen und ausatmen, wie Wurzel und Stamm, so gehören diese beiden zusammen: ein tätiges Leben im Dienste Gottes und die Ruhe in ihm. Sind wir Gottes sicher und gewiß geworden in freudigem Gehorsam und Vertrauen, hat unser Leben ewigen Inhalt bekommen, so empfinden wir doch schmerzlich die Lücke, die da immer bleiben wird zwischen uns und Gott. Wir empfinden sie in der Unruhe, von der unser menschliches Dasein innerlich und äußerlich erfüllt ist. Wir empfinden sie in der mancherlei Qual des Lebens, die keinem erspart bleibt. Wir empfinden sie vor Allem in der Schwachheit des Guten in uns, die uns zeitlebens stecken bleiben läßt in so mancher Halbheit, in so schweren Ungerechtigkeiten, in so bitteren Irrtümern. Gott antwortet uns darauf, indem er uns sterben läßt. Ein Stücklein nur vom Willen Gottes ist geschehen in unserem Leben, ein Stücklein Ewigkeit nur hat sich darin niedergelassen. Dann sagt uns Gott: es ist genug, und die Erde geht zur Erde, der Staub zum Staube, das unsterbliche Teil aber an uns zu dem, dem es gehört und von dem es gekommen ist. Es geht zur Ruhe in Gott. Nicht zur Untätigkeit. Sterben heißt nicht tot werden. Sterben heißt zurückkehren zu Gott, um da neue Kraft zu werden.

 

Sterben ist die Verheißung neuen Lebens. Aus der Unruhe in den Frieden. Aus der Qual in die Freude. Aus der Schwachheit in die Vollkommenheit. Aus der Halbheit ins volle Leben. Aus der Ungerechtigkeit dieser Welt in die stille, selige Ewigkeit. Sterben ist der Anfang davon. Nur der Anfang. Ihr wißt, wieviel man phantasiert über dies neue Leben. Ich möchte kein Wort zu viel sagen. Ich sage nur das, was wir wissen können: daß Sterben Ruhe in Gott ist und daß es keine Ruhe in Gott gibt, die nicht den Anfang neuen Lebens in sich bärge. Wir warten alle einer Auferstehung. O wenn wir doch nur das wüßten! Aber das sicher und klar!

 

So lasset uns nun Fleiß tun, einzukommen zu dieser Ruhe. Ja, meine Freunde, der Fleiß, den Gott von uns fordert, ist ein einfaches Stillehalten. Wir haben von den zweierlei Menschen geredet: von denen, denen Gott fremd ist und die sich darum vor dem Sterben fürchten müssen, und von denen, die Gottes Freunde sind und die darum dem Sterben entgegensehen als dem Eingang zu seiner Ruhe, als der Rückkehr zu ihrem ewigen Ursprung. Wir möchten zu den letzteren gehören. Wir können es und dürfen es. Aber wir müssen dazu Gott ganz anders gelten lassen in unserem Leben als bis dahin. An unserer falschen Stellung zum Tode mögen wir erkennen, wieviel uns noch fehlt. Wir wollen anfangen damit, stille zu halten, wenn Gott uns zeigen will, was Leben heißt. Dann sind wir unterwegs dahin, wo uns das Sterben zur Freude wird.

 

Amen.

 

 

Hans-Georg Geyer

 

 

 

Elemente der kritischen Theorie Max Horkheimers

 

 

 

I

 

Erst nach längerem Zögern hat sich M. Horkheimer doch dazu entschlie­ßen können, eine Reihe von Aufsätzen, die er zwischen 1932 und 1941 fast alle in der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für Sozialforschung" pu­bliziert hat, in zwei Sammelbänden neu erscheinen zu lassen.1 Deren Titel Kritische Theorie" bezeichnet die geistige Position, die M. Horkheimer mit seinen auch „zur Selbstverständigung niedergelegten" Essays2 um­schrieben hat, war sie doch zugleich das Selbstbewußtsein der wissen­schaftlichen Tätigkeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M., dessen Direktor M. Horkheimer 1930 geworden war und das er nach seiner Rückkehr aus der Emigration 1950 zusammen mit seinem Freund und Mit­arbeiter aus frühester Zeit Th. W. Adorno neu aufgebaut hat.

 

Zwischen jenem Anfang und diesem Neuanfang lagen freilich nicht nur die zwölfjährige Gewaltherrschaft des Faschismus in Deutschland und de­ren militärische Zerschlagung, sondern auch die politische Vergeudung des gemeinsamen Erfolgs der Weltmächte in Osten und Westen. Solche Erei­gnisse und ihre Erfahrungen können nicht spurlos an einer Theorie vorbei­gehen, in deren Begriff schon das Erfordernis liegt, das Gras der Geschich­te wachsen zu hören. Zu den spezifischen Besonderheiten der kritischen Theorie M. Horkheimers und seiner Freunde von der sog. „Frankfurter Schule" gehört von Anfang an die äußerste Empfindlichkeit gegenüber ge­schichtlichen Veränderungen und die höchste Empfänglichkeit für deren Auswirkungen auf das Bewußtsein und Denken der Menschen, die sie be­treffen. Schon 1937 hat M. Horkheimer diese „wesentliche Bezogenheit der Theorie auf die Zeit3 hervorgehoben. Sie besteht nicht einfach in dem systematischen Parallelismus wesentlicher Teile einer Theorie mit be­stimmten Epochen der Geschichte, „sondern in der ständigen Veränderung

 

 

 

1 M. Horkheimer, Kritische Theorie. Eine Dokumentation, hg. v. A. Schmidt, Bd. I u. Il, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1968. (im Folgenden zitiert als: Kr.Th. 1, 11)

 

2 Vgl. M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930, 5.

 

3 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: Kr. Th. 11, 182.

 

 

 

 

 

des theoretischen Existenzialurteils über die Gesellschaft, die durch seinen bewußten Zusammenhang mit der Praxis bedingt ist"4. Diese historische Beweglichkeit der kritischen Theorie hat nichts mit Relativismus oder Agnostizismus zu tun, sie ist im Gegenteil nichts anderes als die Beharr­lichkeit der kritischen Entsprechung des Begriffs zu seinem geschichtli­chen Gegenstand im Unterschied der Zeiten. Denn das Objekt der kriti­schen Theorie ist als die gegenwärtige Gesellschaft zugleich die Situation, unter deren Bedingung ihre Begriffe und Urteile in strenger Reflexion auf den konkreten Stand der geschichtlichen Entwicklung gebildet werden. Deshalb kann die kritische Theorie nicht abstrakt dasselbe bleiben, was sie einmal war, wenn sich die historische Konstellation gewandelt hat, in der sie einst entwickelt wurde. Weil sie nicht nur durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt wird, sondern sich bis ins Innerste durch das Äußere bestimmt weiß, wahrt die kritische Theorie dem Denken die Chance, zu­mindest nicht bewußtlos von dem determiniert zu werden, was am kräftig­sten heimlich seine Herrschaft im und über das öffentliche Leben und Be­wußtsein ausübt.

 

   Genau diese historische Sensibilität in der Reflexion der historischen Partikularität des eigenen Denkens ließ M. Horkheimer zögern, jene Ab­handlungen aus den 30er Jahren erneut vorzulegen, worin er seinen Begriff der kritischen Theorie unter den geschichtlichen Bedingungen der Mög­lichkeit des Faschismus als machtpolitischer Organisation inmitten der bürgerlichen Gesellschaft Europas nach verschiedenen Aspekten und in Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Philosophie und Wissenschafts­theorie, Anthropologie und Soziologie formuliert hat. Die glänzenden Aphorismen des Heinrich Regius, die M. Horkheimer nur als „gelegentli­che Notizen aus den Jahren 1926/31 in Deutschland" ausgehen ließ, ob­wohl diese „Einfälle des seiner Lebensart nach individualistischen Verfas­sers auch späterhin nicht ganz ohne Bedeutung sein" möchten,5 dokumen­tieren für die Anfänge des Denkens, das spätestens seit 1937 unter dem programmatischen Titel „Kritische Theorie" firmierte, seine zwar nicht unkritische, wohl aber unproblematische Einheit mit der marxistischen Theorie und Strategie. Vorzüglich drückt sich diese Einheit aus in der An­erkennung und Austragung des politischen Kampfes als der unter den Be­dingungen der gegenwärtigen Gesellschaft allein möglichen Einheit von sozialistischer Theorie und Praxis. Denn unleugbar ist: „Aus den von Marx entdeckten ökonomischen Gesetzen ,folgt' nicht der Sozialismus“6. In der noch immer laufenden Geschichte der ihrer Menschlichkeit im günstigsten Falle nachlaufenden Menschheit ist die richtige Praxis eben keineswegs

 

 

 

4 Aa0., 182.

 

5 H. Regius, Dämmerung. Notizen in Deutschland, Zürich 1934, 7.

 

6 AaO., 62.

 

 

 

 

 

schon die notwendige oder automatische Folge der richtigen Theorie. Als Behauptung ist dieser sokratische Wachtraum vom wahren Leben vielmehr das ideologische Zentrum des Betriebs, der seine Verwirklichung hinter­treibt. Die Reflexion der für die kritische Theorie signifikanten Bestim­mung des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der bürgerlichen Gesell­schaft um 1930 schärft mit dem Bewußtsein der objektiven Notwendigkeit des Wandels der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Sinn der marxistischen Theorie zugleich die Erkenntnis der objektiven Differenz zwischen dem aus leibhaftiger Not extrapolierten Begriff der künftigen Gesellschaft und der Erfahrung des Bestehenden.

 

 

 

„Der Sozialismus ist eine bessere, zweckmäßigere Gesellschaftsform, deren Elemente in gewisser Weise im Kapitalismus vorhanden sind. Es bestehen im Kapitalismus ,Tenden­zen`, die auf einen Umschlag des Systems hintreiben. Das Erfahrungsmaterial aufgrund dessen wir annehmen, daß die Tendenzen sich wirklich durchsetzen, ist sehr gering. Niemand vertraute sich ohne äußerste Gefahr der Brücke über einen Abgrund an, deren Konstruktionsprinzipien auf keiner exakteren Erfahrungen begründet wären als der Ein­tritt des Sozial iSMUS.“7

 

 

 

Indessen war das Eingeständnis der Insuffizienz empirischer Begründung des Sozialismus nur das eine Element im Selbstbewußtsein der kritischen Theorie; das andere war die ebenso angst- wie hoffnungsvolle Gewißheit, der marxistische Sozialismus sei unter den gegebenen Voraussetzungen die allein tragfähige Brücke des Übergangs der Menschheit zur Menschlich­keit, und d. h., „daß es von dem Wagnis, an ihr anderes Ende zu kommen, abhängt, ob der erdrückende Teil der Ungerechtigkeit, der Verkümmerung menschlicher Anlagen, der Verlogenheit, der sinnlosen Erniedrigung, kurz, des unnötigen materiellen und geistigen Leidens schwinden wird oder nicht, mit anderen Worten, daß man um den Sozialismus kämpfen muß"8. Am Vorabend der faschistischen Herrschaft in Deutschland votierte M. Horkheimer noch mit aller Entschiedenheit für die politische Aktivität, die den sozialistischen Gedanken zur geschichtlichen Wirklichkeit macht. Denn es „folgt aus der Erklärung, daß Marx und Engels den Sozialismus nicht ,bewiesen` haben, kein Pessimismus, sondern das Bekenntnis zu Pra­xis, deren die Theorie bedarf. Marx hat das Gesetz der herrschenden un­menschlichen Ordnung aufgedeckt und die Hebel gezeigt, die man anset­zen muß, um eine menschlichere zu schaffen“9. Dabei steht etwas anderes auf dem Spiel als ein Parteiprogramm; „die Lösung der Frage, ob die Klas­sengesellschaft weiterbesteht oder ob es gelingt, den Sozialismus an ihre Stelle zu setzen, entscheidet über der Fortschritt der Menschheit oder ihren

 

 

 

7Ebd.

 

8Aa0., 63.

 

9Ebd.

 

 

 

 

 

Untergang in Barbarei"10. Die Alternative zwischen Humanisierung oder Barbarisierung der Menschheit verleiht der sozialistischen Theorie ihr ei­gentümliches Pathos und der entsprechenden Praxis den Charakter höch­ster Dringlichkeit.

 

   Von diesem Geist sind auch noch die Aufsätze M. Horkheimers aus den 30er Jahren geprägt, wenn es jedoch heute noch auf die Frage der Verbind­lichkeit ihrer Gedanken ankommt, so habe, schrieb M. Horkheimer 1965 in einem Brief zur Erklärung seiner Zurückhaltung gegenüber einer Republi­kation jener Aufsätze, die „Erfahrung in den letzten zwei Jahrzehnten mit­zusprechen“11, also die Erfahrung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie aber ist offenkundig nicht von derselben Art wie die geschichtliche Er­fahrung, deren zentrale Überzeugung in jenen Begriff der kritischen Theo­rie einging, der sich in M. Horkheimers Abhandlungen aus den 30er Jahren niedergeschlagen hat. „Vom Willen zur gerechten Gesellschaft motiviert, sind sie von der Konzeption durchdrungen, daß die Realität mit Notwen­digkeit, wenn nicht unmittelbar das Gute, doch die Kräfte erzeuge, die es verwirklichen können, daß der furchtbare Geschichtslauf das Endziel nicht vereitle, vielmehr auf es hinarbeite."12 Gleichsinnig hieß es fast 40 Jahre früher bei Heinrich Regius:

 

 

 

„Wenn Marx den Sozialismus nicht bewiesen hat, so hat er gezeigt, daß es im Kapitalis­mus Entwicklungstendenzen gibt, welche ihn möglich machen. Die an ihm Interessierten wissen, wo sie anzugreifen haben. Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird von der Weltgeschichte nicht verhindert, sie ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie ge­schulten zum Bessern entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht."13

 

 

 

Sowohl das Bewußtsein vom Sozialismus als einer moralischen Notwen­digkeit, als auch die Erkenntnis seiner historischen, in der geschichtlichen Gegenwart realen Möglichkeit waren damals Kernelemente der praktisch-theoretischen Grundeinstellung M. Horkheimers, in der die Überzeugung vom anhebenden Fortschritt zur vernünftigen Gesellschaft freier Menschen lebendig war. Dieses „Vertrauen hat den Grundton der Essays, ihre wich­tigsten Kategorien, die Beziehung zur idealistischen wie zur materialisti­schen Philosophie bestimmt"14. Aus der Gewißheit über die reale Möglich­keit einer neuen Gesellschaft, die vernünftiger und gerechter als die bür­gerliche wäre, konnte noch bis zu Vernichtung des Hitler-Regimes die Hoffnung genährt werden, daß mit seinem Ende auch das längst fällige

 

 

 

10 Aa0., 64.

 

11 M. Horkheimer, Brief an den S. Fisch Verlag (1965), in: Kr. Th. II, vii.

 

12 Aa0., vii.       

 

13 H.Regius, Dämmerung, s. Anm. 5, 66

 

14 M. Horkheimer, Brief an den S. Fisch Verlag s. Anm. 11, vii.

 

 

 

 

 

Gegenteil zur Tat würde: eine „freiheitliche Zivilisation ohne das mit ihr verbundene Unrecht, ohne Bereitschaft zu nationalistischer Barbarei"15.

 

   Wie schmal die empirische Basis für die Hoffnung auf eine menschli­chere Gesellschaftsordnung auch sein mochte, dieses Ziel schien sowohl „in der Entwicklung der fortgeschrittensten Staaten angelegt" als auch „von den Urhebern der sozialistischen Revolution intendiert zu sein"16.

 

   Nach M. Horkheimers Einschätzung der gesellschaftlichen Situation „in der ersten Hälfte des Jahrhunderts war proletarische Erhebung in den von Krise und Inflation betroffenen europäischen Ländern eine plausible Er­wartung"; und „daß zu Anfang der dreißiger Jahre die vereinigten Arbeiter im Bund mit Intellektuellen den Nationalsozialismus hätten verhindern können, war keine leere Spekulation"17. Aber die proletarische Erhebung fand in Europa nicht statt, und in Deutschland trat der Faschismus seine Herrschaft an; das waren zwei schwere geschichtliche Enttäuschungen, die schon in den Nerv der kritischen Gesellschaftstheorie treffen mußten.

 

   Aber noch in der Zeit des faschistischen Terrors „war freiheitliche Ge­sinnung identisch mit Empörung gegen innere und äußere soziale Mächte, die den Aufstieg der künftigen Mörder teils veranlaßt, teils gefördert oder wenigstens geduldet hatten"18. Freilich wurde auch bereits während des in­ternationalen Krieges gegen den deutschen Faschismus jener Wille zu ei­ner Kultur der Freiheit aller Menschen desavouiert, dem die kritische Theorie Ausdruck verliehen hat. „Industriell fortgeschrittene, sogenannte entwickelte Staaten, vom stalinistischen Rußland zu schweigen, haben Deutschland nicht wegen Hitlers Terror bekriegt, den sie als innere Ange­legenheit gelten ließen, sondern aus Motiven der Machtpolitik."19 Sie machten sich damit desselben Ungeistes verdächtig, den sie im faschisti­schen Deutschland zu bekämpfen versprachen und dessen Erscheinung als „völkische Barbarei" sie auch in gemeinsamer Anstrengung zerschlugen. Aber fortan läßt sich das Mißtrauen nicht unterdrücken, es sei nur eine ob­solete, durch den Gang der wissenschaftlich-technischen und ökonomisch-politischen Entwicklung objektiv antiquierte Erscheinungsform destruiert worden, nicht aber das darin zutage getretene Unwesen selber, das viel­mehr in den Siegern desto kräftiger fortlebt und als das Identische im Ant­agonismus der Supermächte von heute sich auslebt. „Der Schrecken, mit dem der Lauf zur rationalisierten, automatisierten verwalteten Welt sich vollzieht, einschließlich Offizierrevolten oder Infiltrationen in umstrittenen

 

 

 

15 Aa0., vii.

 

16 Aa0., vii.

 

17 M. Horkheimer, Vorwort zur Neupublikation (1968), in: Kr. Th. I, ix.

 

18  Aa0., ix.

 

19 Aa0., x.

 

 

 

 

 

Ländern sowie der Verteidigung dagegen, gehört zum Kampf der Blöcke zur Zeit der internationalen technischen Angleichung."20

 

   Mit der ihm eigenen Sensibilität für die Erschütterungen geschichtlicher Prozesse hat M. Horkheimer die Veränderung wahrgenommen, die durch den Zweiten Weltkrieg herbeigeführt worden ist. „Im Interesse reibungslo­sen Funktionierens der Gesellschaft, angesichts der äußeren und inneren Gefahren, nehmen Mechanismen der bewußten und der unbewußten Kon­trolle überhand."21 Unter den herrschenden Bedingungen politischen Han­delns „tendiert Demokratie als freiheitliche Staatsform dazu, unzweckmä­ßig und deshalb zum Schein zu werden"22. Die weltpolitische Entwicklung in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts erzwingt das schreckliche Ein­geständnis: „Das Dritte Reich ( ... ) war historisch keine Umgereimtheit, vielmehr Signal des Totalitären, das auch diesseits des Eisernen Vorhangs mehr und mehr als zeitgemäß erscheint."23

 

  1968 schreibt M. Horkheimer: „Schon zur Zeit des Nationalsozialismus war ersichtlich, daß totalitäre Lenkung nicht bloß Zufall, sondern ein Sym­ptom des Ganges der Gesellschaft war."24 Damals hegte er freilich noch die Hoffnung, gegründet „auf soziale Theorie und nicht auf metaphysisch-religiöse Postulate"25, derselbe geschichtliche Gang der Gesellschaft müßte auch die Kräfte des Gegenteils der „verwalteten Welt" hervorbringen, die Kräfte eines befreiten Lebens. 1965 muß er indessen bekennen: „Mein auf Analyse der Gesellschaft damals bauender Glaube an fortschrittliche Akti­vität schlägt in Angst vor neuem Unheil, vor der Herrschaft allumfassender Verwaltung um."26 Diese Angst bildet den neuen Grundton in den späteren Arbeiten M. Horkheimers.

 

   Seit den 40er Jahren, nach der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung" bereits seit 194228, hat die kritische Theorie M. Horkheimers ihren verän‑

 

 

 

20 Aa0., xi.

 

21 M. Horkheimer, Brief an den S. Fischer Verlag, s. Anm. 11, viii.

 

22 Aa0., viii. 27  viii.

 

24 M. Horkheimer, Vorwort zur Neupublikation, s. Anm. 17, xi.

 

25 M. Horkheimer, Brief an den S. Fischer Verlag (1965), s. Anm. 11, vii.

 

26 Aa0., ix.

 

27 M. Horkheimer u. Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag­mente, Amsterdam 1947.

 

28 Aa0., 5. – Im engsten Zusammenhang mit der „Dialektik der Aufklärung" steht Max Horkheimers „Eclipse of Reason" (New York 1947), entstanden aus Vorlesungen an der Columbia University im Frühjahr 1944. Die deutsche Übersetzung des Werkes, be­sorgt von Alfred Schmidt, bildet den erste Teil des Sammelbandes: M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegs­ende, hg. v. A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1967 (= Kr. I. V.), 11-174. Als die Absicht sei­ner „Kritik der instrumentellen Vernunft" kennzeichnete es M. Horkheimer im Vorwort, „einige Aspekte der umfassenden philosophischen Theorie zu umreißen, die der Verfas­ser in den letzten Kriegsjahren zusammen mit Th. W. Adorno entwickelte" (aa0., 14).

 

 

 

 

 

derten Klang angenommen. Zwar ist der Faden eines „metaphysischen Pessimismus", nach M. Horkheimer „implizites Moment jedes genuinen materialistischen Denkens"29, schon in seine ältere Konzeption aus den 30er Jahren eingewebt. Über sie heißt es rückblickend: „Der idealistischen Philosophie abzusagen und mit dem historischen Materialismus in der Be­endigung der Vorgeschichte der Menschheit das Ziel zu sehen, erschien mir als die theoretische Alternative gegenüber der Resignation vor dem mit Schrecken sich vollziehenden Lauf zur verwalteten Welt.“30 Der „metaphy­sische Pessimismus" hinsichtlich der geschichtlichen Gegenwart bedeutete damals indessen noch längst nicht den historischen Pessimismus im Hin­blick auf das praktische Ziel der richtigen Gesellschaft.

 

   „Seit dem Ende des Krieges jedoch ist das Ziel verstellt. Die Gesell­schaft befindet sich in einer neuen Phase." Was M. Horkheimer zunächst nur an der gesamtgesellschaftlichen Organisation im Nationalsozialismus diagnostiziert hatte, erscheint nun als Schema von weltweitem Ausmaß. "Kennzeichnend für die Struktur der Oberschicht sind nicht mehr konkur­rierende Unternehmer, sondern Managements, Verbände, Komitees; die materielle Situation der Abhängigen bewirkt politische und psychologische Tendenzen, verschieden von den ehemals proletarischen."32 In der gewan­delten Situation sieht M. Horkheimer unsere Gesellschaft einem globalen Mechanismus entgegentreiben; in dem Maß, in dem die Form der Gesell­schaft zum unaussprechlichen System erstarrt und Bewegung gänzlich auf die Betriebsamkeit ihrer Elemente innerhalb des Identischen zurückgeht, wird immer mehr Menschen dieser Gesellschaft die versprochene Freiheit vorenthalten, von der ihnen schließlich das bloße Bewußtsein als die Sache selbst geblieben ist. „Die Epoche tendiert zur Liquidation alles dessen, was mit der, wenn auch relativen, Autonomie des Einzelnen zusammenhing"33, kraft deren, „in gewissem Maß" jedenfalls, „sein Schicksal Resultat der ei­genen Aktivität" gewesen ist."34 Indem diese Autonomie und der Wille zu ihr als der Wille zur Freiheit jedes einzelnen unaufhörlich vergehen, er­lischt auch die Kraft zur historischen Transzendenz des Ganzen der Gesell­schaft, so entschwindet das Ziel der richtigen Gesellschaft aus dem Hori‑

 

 

 

29 M. Horkheimer, Vorwort zur Neupublikation, s. Anm. 17, xiii; vgl. dazu M. Hork­heimer, Materialismus und Metaphysik (1933), in: Kr. Th. I, 47; außerdem die beiden Vorträge M. Horkheimers über Schopenhauer von 1955 und 1960, in: Soc. II, 113ff.; 124ff..

 

30 M. Horkheimer, Vorwort zur Neupublikation, s. Anm. 17, xiif.

 

31 Aa0., xiii.

 

32 Ebd.

 

33 Aa0., xi.

 

34 Ebd.

 

 

 

 

 

zont praktischer Vernunft. Daß die menschliche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer an tödliche Sicherheit grenzende Unbeirrbar­keit den Weg zur mechanischen Barbarei eingeschlagen hat — das scheint die unter den Umständen dieses weltweiten Prozesses trostlos gewordene Erkenntnis zu sein, die auszusprechen, solange wenigstens dies noch mög­lich ist, der letzte und beste Dienst ist, den kritische Theorie im Sinne von M. Horkheimer der gegenwärtigen Gesellschaft bzw. den Menschen in ihr zu leisten vermag. Radikal hat er nun aus seiner Konzeption die einstige Naherwartung der gerechten Gesellschaft getilgt; im Rückblick erscheint sie ihm als idealistischer Wahn, der noch kräftig in die materialistische Dialektik hineingewirkt hat, wenn er nicht ohne indirekte Selbstkritik fest­stellt: „Die trügerische Annahme vom Beginn des sinnvollen Endes war Voraussetzung und Ergebnis des absoluten Idealismus und hat noch seine materialistischen Schüler irregeführt."35 Bis in den Grund seiner kritischen Theorie hat sich für M. Horkheimer der Zweifel an der Richtigkeit jener These eingesenkt, die auch ihm einmal zutiefst Gewißheit war, daß näm­lich die Möglichkeit des Übergangs der menschlichen Gesellschaft in einen menschenwürdigen Zustand eine gegenwärtig reale Möglichkeit sei.

 

   Diese historische Skepsis M. Horkheimers ist freilich nicht identisch mit Resignation oder Preisgabe der praktisch-politischen Relevanz kriti­scher Theorie. Noch 1968 erklärt er: „Aus kritischer Theorie Konsequen­zen für politisches Handeln zu ziehen ist die Sehnsucht derer, die es ernst meinen."36 Aber er widersteht auch zu Recht dem Mißverständnis und dem Mißbrauch der kritischen Theorie als eines zeitlosen Handlungswissens. Denn „unbedachte und dogmatische Anwendung kritischer Theorie auf die Praxis in der veränderten historischen Realität vermöchten den Prozeß, den sie zu denunzieren hätte, nur zu beschleunigen. Die der kritischen Theorie im Ernst Verbundenen, auch Adorno, der mit mir sie entfaltet hat, stimmen darin überein“37

 

Natürlich kann M. Horkheimer dabei auch nicht die Schwierigkeit ver­borgen bleiben, in die der Begriff der kritischen Theorie geraten muß, wenn ihre Subjekte gezwungen sind, auf die entsprechende kritische Pra­xis, worin tendenziell die Verifikation der menschlichen Gesellschaft und der richtigen Theorie von ihr als derselbe Prozeß sich vollzieht, zu verzich­ten. Im Hinblick auf den Endzweck der Vernunft behauptete I. Kant noch die Notwendigkeit des praktischen Glaubens an „eine Concurrenz göttli‑

 

 

 

35 M. Horkheimer, Philosophie als Kulturkritik (1958; 1960), in: M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, im Auftrag des Instituts f. Sozialforschung hg. v. Th. W. Adorno u. W. Dirks, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1962, 2. Aufl. 1967 (= Soc. II), 21.

 

36 M. Horkheimer, Vorwort zur Neupublikation, s. Anm. 17, ix.

 

37 AaO. ix.

 

 

 

 

 

cher Weisheit im Laufe der Natur38. Schwierig genug schon wird es, wenn solcher Vorsehungsglaube als eine Möglichkeit der praktischen Vernunft dahinfällt. Denn „im schlechten Bestehenden des Anderen eingedenk zu bleiben ohne Zuflucht zu jener Konkurrenz, verleiht dem Gang der Realität eine Bedeutung für den theoretischen Gedanken, die der Theologe und On­tologe zu ignorieren vermag"39. Objektive Realität kann in dieser Situation die kritische Theorie für ihre Begriffe nur beanspruchen, indem sie diese Begriffe einerseits „als Momente der historischen Konstellation" darzustel­len vermag und anderseits zugleich „als Ausdruck jenes Willens zur richti­gen Gesellschaft, der in verschiedenen historischen Situationen theoretisch und praktisch verschieden sich äußert und zugleich als derselbe sich er­hält"40. Die so bezeichnete Anstrengung des Begriffs in der kritischen Theorie aber muß sich bis zur äußersten Problematik an der Grenze der Möglichkeit von kritischer Theorie überhaupt steigern, wo im gegenwärti­gen Zustand der menschlichen Gesellschaft die Kräfte in Richtung einer humanisierten Welt resignieren oder regredieren und mit ihnen die uner­läßliche Voraussetzung einer praktischen Kritik der bestehenden gesell­schaftlichen Verhältnisse im ganzen.

 

Aber Je unwahrscheinlicher der ersehnte höhere Zustand, desto stärker das Bedürfnis, um seinetwillen auszusprechen, was ist"41. Freilich ist die Stel­lung des Gedankens zur Realität eine grundlegend andere geworden; in ihm kommt nicht mehr vernünftig zum Vorschein, was in ihr schon zielstrebig und wirkungsvoll angelegt und bewegend am Werk ist. Weil (wohl „Worauf“ H.F.) jedoch M. Horkhei­mer auch jetzt „nicht verzichten will, ist die enttäuschende Änderung des Ge­dankens zu bezeichnen, ohne trostreiche Gewißheit, daß am Ende, mag es noch so fern sein, das Gute steht"42. Verloren ging seit dem Zweiten Welt­krieg der Glaube an die Kräfte und die Realität des Fortschrittes zu einer bes­seren Gesellschaft; geblieben aber ist der Wille zu ihr und zur Erkenntnis und kompromißlosen Enthüllung alles dessen, was sie machtvoll vereitelt. Zuletzt mag darin motiviert sein, daß M. Horkheimer trotz der veränderten Situation einer Neuauflage seiner früheren Essays schließlich doch zugestimmt hat; sieht er sich doch heute gedrungen, „dem Glauben an die nahe Verwirkli­chung der Ideen westlicher Zivilisation zu entsagen und für die Ideen trotz­dem einzustehen – ohne Vorsehung, ja, gegen den ihr zugeschriebenen Fort­schritt"43.

 

 

 

38 Zit. b. M. Horkheimer, Brief an den S. Fischer Verlag, s. Anm. 11, xi.

 

39 Aa0., xi.

 

40 Aa0., xi.

 

41 Aa0., xi.

 

42 Aa0., ix.

 

43 Aa0., xi. – Vgl. Zum ganzen das ausgezeichnete „Nachwort des Herausgebers: Zur Idee der kritischen Theorie", worin A. Schmidt wesentliche Intentionen und Motive der

 

Konzeption M. Horkheimers im Zusammenhang der neueren Diskussion hervorgehoben hat, in: Kr. Th. II 333ff.

 

 

 

 

 

 

 

II

 

Die kritische Theorie M. Horkheimers ist in ihrem Zentrum Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Struktur und ihrer Geschichte. Als solche enthält sie die Behauptung, daß es in der bürgerlichen Epoche von ihrem Anfang an sowohl den wahren Begriff von der bestehenden als auch den utopischen Begriff von der wahren Gesellschaft konkret nur als die theore­tische Kritik der bürgerlichen Verhältnisse geben kann, die zu deren prak­tischer Aufhebung fortschreitet. Das bedeutet freilich nicht die Verleug­nung jener praktischen Ziele, in deren Namen das Bürgertum einmal seine politische Emanzipation betrieben hat; so wenig wie die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert einfach die Inflation ih­rer Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gewesen ist. Denn

 

 

 

„nicht die Ideen des Bürgertums, sondern Zustände, die ihnen nicht entsprechen, haben ihre Unhaltbarkeit gezeigt. Die Losungen der Aufklärung und der französischen Revolu­tion haben mehr denn je ihre Gültigkeit. Gerade in dem Nachweis, daß sie ihre Aktivität bewahrt und nicht auf Grund der Wirklichkeit verloren haben, besteht die dialektische Kritik an der Welt, die sich unter ihrem Mantel verbirgt. Diese Ideen sind nichts anderes als die einzelnen Züge der vernünftigen Gesellschaft, wie sie in der Moral als notwendi­ger Zielrichtung vorweggenommen ist.„44

 

 

 

Die unteilbare Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ins Werk zu setzen, war der Sinn der bürgerlichen Revolution: „die Herstellung des richtigen Zustands unter den Menschen, die gesellschaftliche Ordnung, die den unabdingbaren Anspruch auf ein vernünftiges Leben für alle erfüllen sollte.“45  Alsbald erwies sich jedoch und trat im Verlauf der Französischen Revolution selber in Erscheinung, daß dieser geschichtliche Sprung noch nicht ans andere Ufer der im erfüllten Sinne menschlichen Gesellschaft ge­tragen hat. „Es wurde offenbar, daß politische Emanzipation, Entfesselung der ungleichen ökonomischen Kräfte zu unbehindertem Wettbewerb nicht mit dem enthusiastisch erstrebten Ziel identisch war.”46 Auf diese negative Erfahrung führte M. Horkheimer die Theorie der Gesellschaft zurück, der er sich selber als einer kritischen verpflichtet weiß. An ihrem geschichtli­chen Anfang stand die Enttäuschung einer moralischen Hoffnung, deren Partei in der Folge die dialektische Theorie ergriffen hat, indem sie nicht abließ, die aus den blutigen Schrecken der Revolution hervorgegangene bürgerliche Gesellschaft mit den Ideen der Revolution zu einer menschli­chen Gesellschaft zu konfrontieren. „Die Existenz des europäischen Libe‑

 

 

 

44 M. Horkheimer, Materialismus und Moral (1933), in: Kr. Th. 1, 97.

 

45 M. Horkheimer, Soziologie und Philosophie (1959), in: Soc. II, 5.

 

46 Ebd.

 

 

 

ralismus zeitigte die Theorie der Gesellschaft"47, die sich unter den Bedin­gungen der bürgerlichen Verfassung zu deren dialektischer Kritik präzisie­ren mußte. Als solche hat sie sich nicht mit dem moralischen Protest gegen die Inkongruenz von Idee und Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesell­schaft und dem idealistischen Appell zur Überwindung des Hiatus begnügt, geschweige denn mit der resignierenden Feststellung des Widerspruchs zwischen dem vernünftigen Begriff und der objektiven Geschichte. Die kritische Theorie hat es vielmehr unternommen, diesem Widerspruch auf den realen Grund zu gehen und so den ersten Schritt zu seiner geschichtli­chen Überwindung zu tun. Denn sie verweigert es, seiner Faktizität den falschen Charakter eines allgemeinen Naturgesetzes anzuhängen oder um­gekehrt seiner Aufhebung den falschen Sinn einer individuellen morali­schen Aufgabe zu vindizieren. Auf diesen Wegen wird stets nur die Frage verhindert, welches seine objektiven Ursachen in der wirklichen Gesell­schaft selber sind. Die aber unwidersprechlich zu denunzieren, ist die er­klärte Absicht kritischer Theorie, indem sie die „Struktur der bürgerlichen Ordnung" untersucht. Materialfiter trifft sich die primäre Aufstellung in der dialektischen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft mit dem liberalisti­schen Ideal der freien Marktwirtschaft:

 

 

 

„Das gesellschaftliche Ganze lebt durch die Entfesselung der Eigentumsinstinkte aller einzelnen. Indem sie sich um Gewinn, Erhaltung und Vermehrung von eigenem Besitz kümmern, wird es erhalten. Jedem ist es anheimgegeben, für sich zu sorgen, so gut er kann. Weil er dabei aber notwendig leisten muß, was andere brauchen, setzen sich mittels der scheinbar selbständigen, das eigene Wohl bezweckenden Tätigkeiten die Bedürfnisse der Allgemeinheit durch .“48

 

 

 

Daß auf dem Weg privaten Profitstrebens im Konkurrenzkampf aller gegen alle am Ende das Gemeinwohl des Ganzen herausgeführt werde, war in der Periode des Liberalismus das ebenso uneingeschränkte wie unausgewiese­ne Dogma des Bürgertums. Zu Recht könnte dieser Glaube freilich nur be­stehen, „wenn die besonderen Interessen und die Bedürfnisse der Allge­meinheit nicht höchst ungenau, sondern mit Notwendigkeit ineinander grif­fen"49. Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft gibt indessen den „Sachverhalt, daß in dieser Ordnung die Produktion der gesamtgesell­schaftlichen Existenz mit dem Streben der Subjekte nach Besitz zusam­menfällt"50, als ein überaus zufälliges und wenig dauerhaftes Faktum zu erkennen. Die Labilität eines befriedeten Gesamtzustandes der Gesell­schaft und die Unsicherheit, mit der in Wirklichkeit deren Fortbestand aus dem unerbittlichen Konkurrenzkampf der einzelnen hervorgegangen ist,

 

 

 

47 Aa0., 6.

 

48 M. Horkheimer, Materialismus und Moral, s. Anm. 44, 76.

 

49 Ebd.

 

50 Ebd.

 

 

 

macht nach M. Horkheimer den entscheidenden „Mangel der bürgerlichen Wirtschaftsform" und die elementare Irrationalität der bürgerlichen Gesell­schaftsordnung in allen ihren Teilen aus. Denn „zwischen dem freien Wettbewerb der Individuen als dem Mittel und der Existenz der Gesamtge­sellschaft als dem Vermittelten besteht keine vernünftige Beziehung. Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allgemeinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen Betriebsamkeit der Individuen, Industrien, Staaten"51.

 

   „Der ökonomische Vorteil ist in dieser Epoche das natürliche Gesetz, unter dem das individuelle Leben steht."52 Indem ihm alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft unterworfen werden, wenn sie weiterleben wol­len, wird sie in einem prinzipiellen Sinne die „Gesellschaft von isolierten einzelnen"53, die in ständiger Rivalität leben müssen, weil die bloße Erhal­tung gesellschaftlicher Unabhängigkeit allein durch die wirtschaftliche Überlegenheit über möglichst viele andere gewährleistet wird, was wieder­um nur durch eine konsequente Maximierung des eigenen produktiven Reichtums sichergestellt werden kann. Im Rahmen der bürgerlichen Ge­sellschaft entsteht dadurch notwendigerweise ein unversöhnlicher Gegen­satz unter allen ihren Mitgliedern, der nur ideologisch zum unerschöpfli­chen Reichtum individuellen Lebens und zur unendlichen Mannigfaltigkeit persönlicher Interessen umgefälscht werden kann. Denn die in der Tat „schlechterdings unausgleichbare Verschiedenheit der Interessen geht aus der Verschiedenheit der Eigentumsverhältnisse hervor, die Menschen ste­hen heute gegeneinander als Funktionen verschiedener ökonomischer Po­tenzen, deren jede den anderen widersprechende Entwicklungstendenzen zeigt"54. Täuschung wäre es deshalb, diesen Pluralismus als segensreiche Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft zu propagieren; die tödliche Identität der Gegensätze ist etwas völlig anderes als die lebendige Vielfalt der individuellen Subjekte eines versöhnten Ganzen. Denn den eigenen wirtschaftlichen Vorteil gibt es nur auf Kosten anderer, die ihre Unterle­genheit im Konkurrenzkampf schließlich mit dem letzten Gut bezahlen müssen, das ihnen noch geblieben ist, mit ihrer Existenz als reproduzierba­rer Arbeitskraft im Dienst der Tüchtigen, die ihren Vorteil zu wahren wis­sen. „Die bürgerliche Wirtschaft war darauf angelegt, daß die Individuen, indem sie für ihr eigenes Glück sorgen, das Leben der Gesellschaft erhal­ten“55 durch die Vermittlung der für das unmittelbare Dasein ihrer Angehö‑

 

 

 

 

 

51 Ebd.

 

52 Ebd.

 

53 Aa0., 82.

 

54 Aa0., 86.

 

55 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, s. Anm. 3, 161.

 

 

 

 

 

rigen erforderlichen Subsistenzmittel. Dem Bestand der Gesellschaft dient die von allen Fesseln befreite Produktion der zur Befriedigung aller mögli­chen individuellen Bedürfnisse notwendigen Lebensgüter und deren Ver­teilung nach dem ebenfalls von allen Einschränkungen entbundenen Prin­zip des Tauschs. Auf dem Markt sind grundsätzlich alle Produkte zugelas­sen: sie müssen sich nur auf ihm behaupten können. Darum muß jedes Produkt gegen jedes andere getauscht werden können. Der Markt der bür­gerlichen Wirtschaft ist deshalb absolut offen, d. h. es gibt schlechterdings nichts mehr in der bürgerlichen Gesellschaft, was nicht ein Tauschobjekt werden kann. Daß in dieser Organisationsform der Konkurrenzwirtschaft, charakterisiert durch die am privaten Vorteil orientierte ökonomische Tä­tigkeit auf der Basis des Privateigentums, die Gesamtverfassung der bür­gerlichen Gesellschaft begründet ist, gehört zu den Hauptsätzen der von M. Horkheimer vertretenen Theorie. Ihren kritischen Charakter gewinnt die Behauptung des Primats der Wirtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft al­lein schon durch die historische Erkenntnis, daß der liberalistischen Wirt­schafts- und Gesellschaftsstruktur eine Dynamik einwohnt, „kraft deren schließlich in einem Ausmaß, das an die alten asiatischen Dynastien erin­nert, phantastische Macht auf der einen, materielle und intellektuelle Ohnmacht auf der anderen Seite sich anhäuft"56. In derselben bürgerlichen Gesellschaft, die sich im Namen der vernünftigen Ideen Freiheit, Gleich­heit, Brüderlichkeit konstituierte, betreiben in wachsendem Ausmaß mehr Menschen durch ihre eigene Arbeit das Werk des realen Gegenteils jener Ideen. Durch diesen Prozeß vollzieht sich nichts geringeres als der Unter­gang der bürgerlichen Kultur, die Selbstzerstörung der bürgerlichen Welt.

 

   Mit ihrer These vom Primat der allgemeinen Tauschwirtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft und der ihrer Form einwohnenden destruktiven Dynamik stellt sich M. Horkheimers dialektische Theorie der Gesellschaft bewußt in die Tradition der von K. Marx entwickelten Kritik der politi­schen Ökonomie. M. Horkheimer konnte 1935 ohne alle Umschweife er­klären: „Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politi­schen Ökonomie erfaßt"57, und damit seine prinzipielle Übereinstimmung mit dem Ansatz und der Absicht der Lehre von K. Marx zum Ausdruck bringen. In dem großen programmatischen Aufsatz von 1937 über „tradi­tionelle und kritische Theorie" schrieb M. Horkheimer: „Die alte Welt geht an einem überholten wirtschaftlichen Organisationsprinzip zugrunde. Der kulturelle Verfall ist damit verknüpft. Die Ökonomie ist die erste Ursache des Elends, und die theoretische und praktische Kritik hat sich zunächst auf sie zu richten." Denn mit K. Marx war er der Überzeugung, daß

 

 

 

 

 

56 Ebd.

 

57 M. Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit (1935), in: Kr. Th. I, 263.

 

58 M. Horkheimer, Nachtrag (1937), in: Kr. Th. II, 197.

 

 

 

 

 

„beim gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft die Wirtschaft die Men­schen beherrscht und daher den Hebel bildet, durch den er umzuwälzen ist"59. Und wiederum hatte M. Horkheimer mit K. Marx ein elementares In­teresse an der Umwälzung des bestehenden Zustandes; denn die unver­meidliche Steigerung seiner immanenten Widersprüchlichkeit im histori­schen Prozeß seiner Perpetuierung fällt mit der fortschreitenden Zerstörung der bürgerlichen Kultur zusammen, in die das Leben der gesamten Menschheit zutiefst verstrickt ist. Bereits 1933 schrieb M. Horkheimer: „Die Welt scheint einem Unheil zuzutreiben oder sich vielmehr schon in ihm zu befinden, das innerhalb der uns vertrauten Geschichte nur mit dem Untergang der Antike verglichen werden kann."60

 

   Als ein Element in der Unheilsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft hat sich die kritische Theorie M. Horkheimers von Anfang an verstanden. Von ihm und Th. W. Adorno ist sie als jenes Selbstbewußtsein der bürger­lichen Gesellschaft entwickelt worden, welches sich die zentralen Wider­sprüche ihrer Wirklichkeit nicht verschleiert, sondern ihre vernichtende Gewalt eingesteht. Indem es die praktischen Zwecke der bürgerlichen Re­volution im 18. Jahrhundert wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als Normen ernst nimmt, an denen gemessen werden kann, was seitdem aus dem Bürgertum geworden ist, bleibt es zugleich dieser Ideen als konstruk­tiver Elemente einer künftigen Gesellschaft jenseits einer bestehenden bür­gerlichen eingedenk. Als dieses Selbstbewußtsein der bürgerlichen Gesell­schaft, das ihren Ursprung und ihre Geschichte behält, vereinigt die kriti­sche Theorie in sich die Intention auf eine radikale Überwindung der durch ihre privatkapitalistische Wirtschaftsform definierten Klassengesellschaft als herrschender Gesamtstruktur voll zerstörerischer Dynamik mit der In­tention auf die Gestaltung einer neuen Gesellschaft, die insofern unbürger­lich wäre, als sie nicht mehr auf dem ökonomischen Realprinzip der bür­gerlichen Welt basierte, aber gerade so die Möglichkeit böte, sich in Über­einstimmung mit den Ideen des Bürgertums als im emphatischen Sinne menschliche Gesellschaft zu entwickeln. Die dialektische Gesellschafts­theorie ist insofern ihrem Begriff nach und antezipatorisch das „Selbstbe­wußtsein der Subjekte einer großen geschichtlichen Umwälzung"61. Denn kritische Theorie intendiert die geschichtliche Veränderung, in der das En­de der bürgerlichen Gesellschaft zugleich der Anfang der menschlichen Gesellschaft ist. In diesem Sinne einer dialektischen Vollendung der bür­gerlichen Gesellschaft hat M. Horkheimer den Endzweck der marxisti­schen Theorie auch nach dem Zweitem Weltkrieg noch verstehen können:

 

'

 

59 Ebd.

 

60 M. Horkheimer, Materialismus und Moral, s. Anm. 44, 95.

 

61 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, s. Anm. 3, 179.

 

 

 

 

 

„Marx hatte den Fortgang von der errungenen politischen und juristischen zur allgemei­nen gesellschaftlichen Freiheit zum Thema seiner Theorie gemacht: die Menschen sollten die ökonornische Dynamik beherrschen lernen, anstatt sich ihr zu unterwerfen. Weder die inneren Schwierigkeiten der Wirtschaft, noch die durch sie bedingten äußeren Katastro­phen, Massenbewegungen und Kriege sollten die Erde bedrohen dürfen. Er zielte darauf, durch Ausbreitung und Konkretisierung der Freiheit den bürgerlichen Prozeß zu vollen­den, die in den fortgeschrittensten bürgerlichen Individuen entfalteten Fähigkeiten durch autonome Teilnahme aller am Leben der Gesellschaft allgemein zu machen."62

 

 

 

Die dialektische Theorie der Gesellschaft, die M. Horkheimer mit seinen Freunden in der 30er Jahren im engen Anschluß an die Lehre von K. Marx entwickelt und auch heute nicht einfach preisgegeben hat, richtet sich we­senhaft auf die „Transformation des gesellschaftlichen Ganzen"63. Sowohl die nur feststellende Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit, als auch die bloße Beseitigung einzelner Mißstände in ihr laufen dem Sinn der kriti­schen Theorie zuwider. Um der konkreten Möglichkeit eines menschen­würdigen Daseins aller Menschen willen ist ihr die praktische Intention ebenso unaufgebbar wie der Gedanke der notwendigen Totalität der gesell­schaftlichen Veränderung; wer ihn preisgäbe, verschleierte sich und ande­ren die „fundamentale Verschiedenheit eines zerspaltenen Gesellschafts­ganzen, in dem die materielle und ideologische Macht zur Aufrechterhal­tung von Privilegien funktioniert, gegenüber der Assoziation freier Men­schen, bei der jeder die gleiche Möglichkeit hat, sich zu entfalten"64. Diese „Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen" im qualitativen Unterschied zur antagonistischen und irrationalen Gesell­schaft der Gegenwart läßt sich nicht mehr als schwärmerische Illusion ab­tun, nichts weniger Handfestes als der tatsächliche Entwicklungsstand der Produktivkräfte straft einen solchen Vorwurf Lügen. „Die Menschheit ist in der bürgerlichen Periode so reich geworden, gebietet über so große na­türliche und menschliche Hilfskräfte, daß sie geeinigt unter würdigen Ziel­setzungen existieren könnte."65 Daß jene Idee in der bisherigen Geschichte der Menschheit zur realen Möglichkeit gediehen ist und darum auch den vernünftigen Zweck sozialer Theorie und Praxis zu bilden vermag, gehört von Anfang an zum inhaltlichen Kern der dialektischen Theorie M. Hork­heimers.

 

   Als M. Horkheimer auf der „Assoziation freier Menschen" als einer realen Möglichkeit unter den Bedingungen der gegenwärtig verfügbaren Produkte insistierte, verfocht er die Ideen der bürgerlichen Revolution ge­gen die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft. Denn nichts anderes als die individuelle Freiheit ist von jenen als Kriterium der Wahrheit mensch‑

 

 

 

62 M. Horkheimer, Philosophie als Kulturkritik, s. Anm. 35, 26.

 

63 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, s. Anm. 3, 168.

 

64 Ebd.

 

65 M. Horkheimer, Materialismus und Moral, s. Anm. 44, 95.

 

 

 

 

 

licher Gesellschaft reklamiert worden, wird von dieser als Realität in der bürgerlichen Gesellschaft prätendiert. Von der Einsicht geleitet, „daß die freie Entwicklung der Individuen von der vernünftigen Verfassung der Ge­sellschaft abhängt"66, mißt jedoch die „neue dialektische Philosophie" den Individualismus in Weltanschauung und öffentlichem Bewußtsein an den realen Verhältnissen des gesellschaftlichen Ganzen.

 

   In der frühkapitalistischen Periode gab es eine immerhin partikulär funktionierende Wechselwirkung zwischen individueller Selbsterhaltung und sozialem Progreß.

 

 

 

„Der Individualismus ist der innerste Kern der Theorie und Praxis des bürgerlichen Libe­ralismus, der das Fortschreiten der Gesellschaft in der automatischen Wechselwirkung der divergierenden Interessen auf dem freien Markt sieht ( ... ). Das bürgerliche Indivi­duum sah sich nicht notwendig im Gegensatz zum Kollektiv, sondern glaubte – oder wurde gelehrt zu glauben –, es gehöre einer Gesellschaft an, die den höchsten Grad von Harmonie einzig durch die unbeschränkte Konkurrenz individueller Interessen erreichen kann." 67

 

 

 

Der allgemeine Endzweck des privaten Vorteils, das natürliche Gesetz des Eigennutzes und das zum obersten Kanon gesellschaftlicher Realität er­höhte Prinzip der Äquivalenz bedingen jedoch zunehmend die Zerstörung der bürgerlichen Individualität und die Ausbreitung von Abhängigkeit und Gleichförmigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft. „In unserem Zeitalter der großen ökonomischen Verbände und der Massenkultur legt das Prinzip der Konformität seinen individualistischen Schleier ab, wird offen verkün­det und in den Rang eines Ideals per se erhoben."68 Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft im Übergang von ihrer liberalistischen zu ihrer monopolistischen Epoche ist die Geschichte der Austreibung individueller Subjektivität, ohne daß die Konstitution des gesellschaftlichen Ganzen zum vernünftigen Subjekt seines geschichtlichen Daseins jenen Verlust kompensieren könnte – weder faktisch noch prinzipiell.

 

   Nach der Einsicht, die M. Horkheimer seit den 30er Jahren immer wichtiger wurde, „ist der Begriff der Würde des Individuums heute eine der Ideen, die eine humane Organisation der Gesellschaft kennzeichnen"69. Bereits in seinen großen Essays aus den 30er Jahren hat M. Horkheimer auf dieser Idee der vernünftigen Subjektivität individuellen Lebens insi­stiert und auf der Erinnerung, daß sie in der liberalistischen Epoche der bürgerlichen Gesellschaft schon einmal partikulär realisiert worden war in der Existenz des freien Unternehmers. In ihm hat M. Horkheimer, wie es scheint, von früh an so etwas wie die Inkarnation des vernünftigen Sub

 

 

 

66 M. Horkheimer, Nachtrag, s. Anm. 58, 194.

 

67 M Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), in: Kr. I. V., 133.

 

68 Ebd.

 

69 Aa0., 166.

 

 

 

jekts im individuellen Dasein gesehen, der eine maßgebliche Bedeutung für die Organisation des gesellschaftlichen Ganzen zukommen müsse. Denn der „absolute Geist" in der Konstellation von Natur und Mensch ist nur so vernünftig, wie das menschliche Subjekt darin frei ist von den Zwängen der äußeren und inneren Natur. Dem menschlichen Subjekt im Verhältnis zur äußeren Natur aber wird die Unabhängigkeit von der unmit­telbaren Existenz der Naturgewalten nur in dem Maße wirklich eignen, in dem der subjektive Geist in der Gestalt individueller Subjektivität mit Vernunft frei,

 

d. h. allgemeiner Selbstbestimmung mächtig sein kann. Die Realität des individuellen Subjekts der Vernunft ist indessen keine unmit­telbare Gegebenheit und ebensowenig eine ewige Möglichkeit, die jeder­zeit von jedem Menschen ergriffen werden kann, wenn er nur will. Son­dern als eine historische Möglichkeit bietet sie sich nur, wenn die Gesamt­heit der gesellschaftlichen Verhältnisse als das Ensemble der notwendigen Voraussetzungen individuellen Lebens in Übereinstimmung mit derselben Vernunft organisiert ist, die das Individuum zur Subjektivität, zur freien Selbstbestimmung ermächtigen soll. Dazu war in der Frühzeit der bürgerli­chen Gesellschaft ein Anfang, wie bescheiden auch immer, gemacht wor­den. Der Typus des Unternehmers blieb jedoch nicht repräsentativ. Statt daß die Beschränkung, mit der in ihm das vernünftige Individuum hervor­trat, im Lauf der Geschichte wie Schulden abgetragen wurde, ist die Indi­vidualität selber einem, wie es scheint, radikalen Auflösungsprozeß ausge­liefert worden.

 

   In der Situation des wachsenden Gegensatzes zwischen einer stetig zu­nehmenden Masse ohnmächtiger Individuen und einer übermächtigen Ge­sellschaft hat M. Horkheimer mit seiner kritischen Theorie die Partei der Individuen ergriffen, die unter dem Druck der gesellschaftlichen Organisa­tion immer weniger zum Subjekt ihres eigenen Lebens werden können. In der praktischen Idee einer Gesellschaft freier Individuen hatte die dialekti­sche Theorie seit jeher ihren Endzweck und in der Analyse der realen Ur­sachen ihrer Verhinderung ihre nächste Aufgabe begriffen. Als sie die be­stehende Gesellschaft daraufhin analysierte, war sie auf deren spezifische Wirtschaftsordnung gestoßen und zur „Kritik der Ökonomie" geworden. Auch bei M. Horkheimer hat sich daran grundsätzlich nichts geändert; auch bei ihm setzt die dialektische Theorie der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft „mit der Kennzeichnung der auf Tausch begründeten Ökono­mie"70 ein. Dieser „Anfang umreißt bereits den Mechanismus, kraft dessen die bürgerliche Gesellschaft nach Abschaffung der feudalistischen Regu­lierungen, des Zunftsystems und der Leibeigenschaft nicht zugleich an ih‑

 

 

 

70 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, s. Anm. 3, 173; zur Konstruk­tion der dialektischen Theorie vgl. M. Horkheimer, zum Problem der Wahrheit, s. Anm. 57, 261ff.

 

 

 

 

 

rein anarchischen Prinzip zugrunde ging, sondern sich am Leben erhielt"71. Indem die kritische Theorie „mit einer durch relativ allgemeine Begriffe bestimmten Idee des einfachen Warentausches"72 beginnt, geht sie von dem Prinzip aus, dem die bürgerliche Gesellschaft nicht nur ihren Bestand ver­dankt, sondern das auch ihre ganze Geschichte durchherrscht. Ihr nächstes Ziel ist es aufzuzeigen, daß und wie das Tauschprinzip im historischen Prozeß der bürgerlichen Gesellschaft auf Menschen und Dinge sich aus­wirkt, durch deren Veränderungen sich selber entwickelt und „notwendig zur Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze führen muß, die in der gegenwärtigen Epoche zu Kriegen und Revolutionen treibt"73. Insofern ist, wie M. Horkheimers präzise Bestimmung lautet,

 

 

 

„die kritische Gesellschaftstheorie als ganze ein einziges entfaltetes Existenzialurteil. Es besagt grob formuliert, daß die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Auf­stiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach ei­ner ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die wei­tere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt.“74

 

 

 

Aber die Darlegung und Erklärung dieses Verlaufs der bürgerlichen Ge­schichte auf Grund der Tauschmechanismen ist ebensowenig fatalistisch, wie die Zurückführung aller gesellschaftlichen Phänomene auf ökonomi­sche Ursachen der positive Sinn kritischer Theorie ist: „die Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft war ihr Gegenstand und nicht etwa ihr Pro­gramm“75, hat sie es doch auf die Transformation der gesamtgesellschaftli­chen Wirklichkeit abgesehen. Und diese „geschichtliche Veränderung läßt das Verhältnis der Kultursphären nicht unberührt“76. Zum Sinn kritischer Theorie gehört es gerade, die unter den gegenwärtigen Umständen deter­minierende Allgewalt des ökonomischen Apparates zu brechen; „wenn beim gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft die Wirtschaft die Menschen beherrscht und daher die Hebel bildet, durch den er umzuwälzen ist, so sol­len in Zukunft die Menschen angesichts der natürlichen Notwendigkeiten ihre gesamten Beziehungen selbst bestimmen".77

 

 

 

71 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, s. Anm. 3, 173f.

 

72 Aa0., 174.

 

73 Aa0., 175.

 

74 Aa0., 175f. – Paradigmatisch für den Gesellschaftsbegriff der kritischen Theorie

 

ist als dessen Umriß Th, W. Adornos Artikel „Gesellschaft" im „Evangelischen Staatsle‑

 

xikon“, hg. v. H. Kunst u. S. Grundmann, Stuttgart/Berlin 1966, Sp. 636-643.

 

75 Max Horkheimer, Nachtrag, s. Anm. 58, 199.

 

76 Aa0., 197.

 

77 Ebd.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

III

 

 

 

Zwar bilden die ökonomischen Verhältnisse und ihre gesellschaftliche Omnipotenz, unter deren Druck individuelles Leben mehr und mehr ver­kümmern muß, das primäre Objekt der dialektischen Theorie, aber doch nur im Zusammenhang mit dem Ziel ihrer totalen Verwandlung durch den vernünftigen Gebrauch der objektiven und subjektiven Kräfte, die sich im historischen Gesamtprozeß gebildet haben. In dieser Konstellation ist, was M. Horkheimer stets mit größtem Nachdruck unterstrichen hat, die „kriti­sche Theorie der Gesellschaft auch als Kritik der Ökonomie philosophisch geblieben"78. Für sie „bleibt die Erkenntnis des historischen Verlaufs des Ganzen das treibende Motiv", und genau der daraus entspringende „Hin­blick auf die Tendenzen der gesamten Gesellschaft" macht ihren philoso­phischen Charakter und wesentlichen Unterschied zur reinen Fachwissen­schaft aus. Auf diese Differenz richtete M. Horkheimer die Reflexion in der großen Abhandlung von 1937 über „traditionelle und kritische Theo­rie": „die eine wurde im ,Discours de la methode' begründet, die andere in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie."80 Ihre systematische Verschiedenheit hat M. Horkheimer sehr präzis im Hinblick auf ihre unter­schiedliche Einstellung zur bestehenden Gesellschaft indiziert: Theorie nach dem cartesianischen Modell und in Übereinstimmung mit dem Sy­stem der einzelnen Fachwissenschaften „organisiert die Erfahrung auf Grund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens in­nerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben"81. Im bestimmten Unter­schied dazu hat die kritische Theorie der Gesellschaft „die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegen­stand"82.

 

   Die Intention auf die geschichtliche Bewegung und die gesellschaftli­che Totalität unterscheidet die kritische Theorie M. Horkheimers auf der einen Seite vom Typus einer Fachwissenschaft, die auf empirische oder hi­storische Fakten sich gründet und als begrenztes Spezialwissen bescheiden tut. Anderseits bezeichnet sie zugleich die bestimmte philosophische Posi­tion der dialektischen Kritik. Für sie ist allerdings die Opposition zur tradi­tionellen europäischen Metaphysik charakteristisch; aber sie ist alles ande­re als abstrakt.

 

   Was W. Dilthey in seiner Analyse der europäischen Metaphysik, ihr selber noch verhaftet, als die Kennzeichen des philosophischen Denkens

 

 

 

78 AaO., 195.

 

79 Ebd.

 

80 AaO., 191.

 

81 Ebd.

 

82 Ebd.

 

 

 

 

 

ermittelte, hat M. Horkheimer durchaus zur Charakterisierung des meta­physischen Geistes aufnehmen können: „Selbstbesinnung, das heißt die konsequente und radikale Frage gegenüber den subjektiven und objektiven Gegebenheiten; Einordnung alles Erkennbaren in einen einheitlichen Zu­sammenhang; Streben nach Begründung der Allgemeingültigkeit der Er­kenntnis durch den Rückgang auf ihre letzten Rechtsgründe."83 Von seinen Anfängen an enthielt das metaphysische Denken die Tendenz, sich selber als System des absoluten Wissens durch die Identifizierung der obersten Prinzipien objektiver Erkenntnis mit konstanten Vernunftfaktoren des die Welt von Grund auf erkennenden Subjekts zu vollenden.

 

 

 

„Deshalb tendiert die Metaphysik dazu, die ganze Welt als Vernunftprodukt zu betrach­ten. Denn vollendet erkennt die Vernunft nur sich selbst. Das immanente Motiv, das den deutschen Idealismus beherrscht und schon in der Vorrede zur ,Kritik der reinen Ver­nunft' ausgesprochen wird, daß nämlich ,in der Erkenntnis a priori den Objekten nichts beigelegt werden kann, als was das denkende Subjekt aus sich selbst hernimmt' oder, mit anderen Worten, daß die Vernunft nur von sich selbst absolute Erkenntnis gewinnen kann, ist das Geheimnis der Metaphysik überhaupt.“84

 

 

 

Sie ist ihrem Wesen nach Idealismus, ein Denken, das von der Idee der Identität von Subjekt und Objekt als seinem höchsten Prinzip regiert wird. Der Idealismus setzt diese Identität von Denken und Sein als die ursprüng­liche Wirklichkeit des Ganzen voraus; sie erfüllt im Prinzip auch schon die Gegenwart, nicht anders als sie bereits in aller Vergangenheit mächtig gewesen ist und ebenso für alle Zukunft grundlegend und maßgebend sein wird. Dieses ersten Grundes aller Dinge vermag darum auch jedes Ver­nunftwesen immer und überall inne zu werden. Er liegt aber auch allen Zeiten gleich nahe als der letzte Zweck ihrer im ganzen immer schon ver­nünftigen Wirklichkeit. So impliziert der Anspruch idealistischer Meta­physik auf absolutes Wissen den anderen, vom obersten Prinzip der prakti­schen Vernunft überhaupt den bestimmten Begriff zu enthalten.

 

   Aus der Erkenntnis dessen, was die Wirklichkeit im einzelnen und ganzen von Grund auf ist, soll für das Denken gut idealistisch die Mög­lichkeit folgen, „positive Konsequenzen für das Handeln zu ziehen. Das Sein, zu dem (es) vorstößt, muß eine Verfassung haben, deren Kenntnis für die menschliche Lebensführung entscheidend ist, es muß eine diesem Sein angemessene Haltung geben"85. Im Sinne der Metaphysik bzw. des Idea­lismus als ihres innersten Wertes muß es für jeden Menschen darauf an­kommen, „sein persönliches Leben in allen Teilen vom Einblick in die letzten Gründe abhängig zu machen"86. Dieser „metaphysische Glaube, daß

 

 

 

83 M. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, s. Anm. 29, 31f.

 

84 Aa0., 48.

 

85  Aa0., 38

 

86 Ebd.

 

 

 

 

 

die Gestaltung des individuellen Lebens aus dem zu entdeckenden Sein begründbar sei"87, ist wesentlich für den Idealismus oder Geist der Meta­physik; ihm „gilt die zugrunde liegende Wirklichkeit als normativ"88. Das allgemeine Wesen ist das unbedingte Gesetz der Existenz, und die Er­kenntnis des Wesens schon der Existenz mächtig; „das eigene Sein zu be­wahren oder zu dem, was man ist, zu werden, gilt dann als ethische Maxi­me."89

 

   In seiner kritischen Theorie hat M. Horkheimer die Grundzüge der dia­lektischen Antithese zum metaphysischen Idealismus entwickelt, sowohl zu dessen theoretischer Idee des absoluten oder totalen Wissens als auch zu der damit verbundenen praktischen Idee des wesentlichen oder eigentli­chen Lebens. Die beiden Abhandlungen über „Materialismus und Meta­physik" und „Materialismus und Moral" von 1933 formulieren diese Anti­these im Grundriß.90

 

   Damals war der „Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus" für M. Horkheimer noch „der die Geschichte der Philosophie durchziehen­de Gegensatz zwischen den zwei gedanklichen Verhaltensweisen, welcher von unserer geschichtlichen Situation aus als der entscheidende er­scheint"91. Als solcher wird er indessen nicht erhellt sondern verschleiert, wenn die materialistische Antithese zum metaphysischen Idealismus, wie es für das bürgerliche Bewußtsein charakteristisch zu sein scheint, selber nach dem Modell der Metaphysik vorgestellt und auf die These zurückge­führt wird, daß alles Wirkliche Materie und ihre Bewegung sei.92 In der Denkfigur der Metaphysik ist der tiefste Grund des Seins zugleich der höchste Zweck des Lebens, das vernünftige Bewußtsein von diesem Prin­zip darum auch schon die Wurzel des ganzen Wissens und des wahren Le­bens. Die Pointe des materialistischen Denkens aber wäre schon im Ansatz verfehlt, wenn es als System der theoretischen und praktischen Vernunft aus jenem ersten Hauptsatz des Materialismus entwickelt würde. Denn „die materialistische These schließt ihrer Natur nach solche Konsequenzen aus. Das Prinzip, welches sie als Wirklichkeit bezeichnet, taugt nicht dazu, eine Norm abzugeben. Die Materie ist an sich selbst sinnlos, aus ihren Qualitä­ten folgt keine Maxime für die Lebensgestaltung: weder im Sinn eines Ge­bots noch eines Musterbildes."93 Dieser metaphysische Mangel des Mate­rialismus ist seine kritische Stärke, die erklärte Sinnlosigkeit seines „Prin‑

 

 

 

87 Aa0., 39. Ebd.

 

88 Ebd.

 

89 Ebd.

 

90 Vgl. Kr. Th. I, 31 ff. u. 71 ff.

 

91 M. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, s. Anm. 29, 34.

 

92 Vgl. aa0., 35.

 

93 Aa0., 40.

 

 

 

 

 

zips" infiziert das materialistische Denken mit einer grundsätzlichen Skep­sis gegen alle Spielarten der Behauptung einer normativen Kraft des Fakti­schen. Der Materialismus prätendiert keine Erkenntnis des absolut ge­bietenden und gebotenen Seins, sondern erklärt schon im Prinzip seinen Zweifel an ihrer Möglichkeit. „Die Thesis einer absoluten Ordnung und ei­ner absoluten Forderung setzt immer den Anspruch auf Wissen vom Gan­zen, von der Totalität, vom Unendlichen voraus."94 Die Erfüllung dieses Anspruchs verlangte die Einheit des endlichen und des unendlichen Gei­stes, die der metaphysische Idealismus folgerichtig zuletzt auch ernstlich behauptet hat. „Der Materialismus besitzt dagegen in der Erkenntnis von der unaufhebbaren Spannung zwischen Begriff und Gegenstand einen kri­tischen Selbstschutz vor dem Glauben an die Unendlichkeit des Geistes."95 Infolgedessen hat der Materialismus auch gar kein primäres Interesse an einer umfassenden Theorie in der Form einer Weltanschauung oder eines geschlossenen Systems; und aus demselben Grund vermag er ebensowenig die idealistische Ansicht von der unmittelbaren praktischen Relevanz wah­rer Einsicht zu teilen, die als solche schon die Seele, die sie erfüllt, zu hei­len vermöchte.

 

   Weder ewige Wahrheiten noch die unsterbliche Seele werden vom Ma­terialismus als ursprüngliche Themen des Denkens, auch nicht in negativer Absicht, respektiert. „Es geht ihm nicht um Weltanschauung, auch nicht um die Seele der Menschen, sondern um die Änderung der bestimmten Verhältnisse, unter denen die Menschen leiden und ihre Seele freilich ver­kümmern muß."96 Dieses elementare Interesse an der konkreten Beseiti­gung menschlichen Elends und Leidens in der jeweils besonderen histori­schen Gegenwart hat M. Horkheimer als den tiefen Bestimmungsgrund der materialistischen Philosophie erkannt. „Das Leben der meisten Menschen ist so elend, der Entbehrungen und Demütigungen sind so zahlreiche, An­strengungen und Erfolge stehen meist in einem so krassen Mißverhältnis, daß die Hoffnung, diese irdische Ordnung möchte nicht die einzig wirkli­che sein, nur zu begreiflich ist."97 Indem das Denken lernte, sie streng im Zusammenhang der realen Nöte, in denen sie sich bildet, konkret zu be­greifen, verdarb es nicht länger unvermeidlich zum „Mittel, den durch Na­tur und gesellschaftliche Verhältnisse erzwungenen Triebverzicht zu ver­klären"98, und „so konnte die Veränderung der das Unglück bedingenden Verhältnisse zum Ziel des materialistischen Denkens werden"99. Aus dem

 

 

 

94 Aa0., 48.

 

95 Ebd.

 

96 Aa0., 53.

 

97 Aa0., 44.

 

98 Ebd.

 

99 AaO., 45.

 

 

 

 

 

praktischen Interesse an der Beseitigung der materiellen und seelischen Nöte unzähliger Menschen in unsrer Welt hat M. Horkheimer auch seine theoretische Lebensarbeit dem Ziel der Negation ihrer Ursachen durch ver­nünftige Aktivität verschrieben und sich zur materialistischen Philosophie bekannt, in der jenes Interesse zur Vernunft kommt.

 

   Dieses ursprüngliche und nicht mehr allgemein begründbare Interes­se,100 welches Mitleid im emphatischen Sinne heißen darf,101 bedingt auch die historische Vielgestaltigkeit des Materialismus: denn so beharrlich die bisherige Geschichte des Menschen eine Geschichte des Leidens der Vie­len gewesen ist, so sehr haben sich in ihrem Verlauf dessen Ursachen ge­wandelt, und mit ihnen die Ziele des Materialismus. Konstant blieb nur seine negative Form, in der er weder das konkrete Elend in der Geschichte zum „metaphysischen Übel" hypostasiert, noch sich selber zur bloßen Be­trachtung allgemeiner Verhältnisse aus der Erfahrungsgegenwart des Lei­dens zurückzieht und neutralisiert. Die praktischen Ideen der materialisti­schen Philosophie aber wechseln gemäß dem Wandel der historischen Rea­lität menschlichen Leidens und der verfügbaren Mittel zu ihrer Aufhebung. So war der antike Materialismus „angesichts der Entwicklung der Produk­tivkräfte" vielleicht tatsächlich „darauf angewiesen, innere Praktiken aus­zubilden"102 und die Seelenruhe zu empfehlen, weil es in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht noch an geeigneten Mitteln fehlte, um die aus dem Naturverhältnis und der sozialen Struktur der Gesellschaft erwachsenen Nöte in ihren Wurzeln zu treffen. „Der Materialismus des frühen Bürger­tums zielte dagegen auf die Vermehrung der Naturerkenntnis und die Ge­winnung neuer Kräfte zur Beherrschung von Natur und Menschen. Das Elend der Gegenwart aber ist an die gesellschaftliche Struktur geknüpft. Darum bildet die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materia­lismus."103

 

   Für den objektiven Sinn der kritischen Theorie ist ihre Motivation durch die „Solidarität mit den leidenden Menschen" ebenso konstitutiv, wie es M. Horkheimer für den Materialismus dargetan hat, ihre wichtigsten Charaktere, die sie mit dem genuinen Materialismus gemeinsam hat, wie ihre Abhängigkeit von der jeweiligen geschichtlichen Gegenwart oder ihre Tendenz zur praktischen Veränderung bestehender Lebensbedingungen können ebenfalls nur aus seinem primären Interesse an der Befreiung der Menschen von ihrem selbst verschuldeten Elend zureichend begriffen wer­den.

 

 

 

100 Vgl. Aa0., 47.53.

 

101 Vgl. M. Horkheimer, Materialismus und Moral, s. Anm. 44, 95ff.

 

102 M. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, s. Anm. 29, 45.

 

103 Ebd.

 

104 Aa0., 64.

 

 

 

 

 

Wird daher ein rein theoretisches Verständnis materialistischen Den­kens zwangsläufig insuffizient, so ist es auch verfehlt, seine aktuelle Ge­stalt aus dem Gegensatz zum Idealismus in Vergangenheit und Gegenwart konstruieren zu wollen. Seine gegenwärtige Explikation ist vielmehr ent­scheidend durch die primären Ursachen des unglücklichen Daseins großer Teile der heutigen Menschheit bedingt; wenn sie in der Wirtschaftsord­nung zu suchen sind, muß der Materialismus essentiell zur Kritik der Öko­nomie werden. Ganz in diesem Sinn erklärt M. Horkheimer 1933: „Der Materialismus der Gegenwart ist nicht vornehmlich durch die formalen Züge, welche gegenüber der idealistischen Metaphysik hervorzuheben sind, gekennzeichnet, sondern durch seinen Inhalt: die ökonomische Theo­rie der Gesellschaft." Niemand kann deren Zweck in ihr selber finden, ohne sie um ihren Sinn zu bringen. Denn auch

 

 

 

„die ökonomische Theorie der Gesellschaft und der Geschichte ist nicht aus rein theoreti­schen Motiven, sondern aus dem Bedürfnis entstanden, die gegenwärtige Gesellschaft zu begreifen; denn diese Gesellschaft ist dazu gelangt, eine immer größere Anzahl Men­schen von dem auf Grund des allgemeinen Reichtums an wirtschaftlichen Kräften mögli­chen Glück abzusperren. Im Zusammenhang damit bildet sich auch die Vorstellung einer besseren Wirklichkeit, welche aus der heute herrschenden hervorgeht, und dieser Über­gang wird zum Thema der gegenwärtigen Theorie und Praxis." 106

 

 

 

Es kann darum nur Unkenntnis oder Verleumdung sein, diesen Materialis­mus einer nihilistischen Abrogation verbindlicher und verbindender Ideen menschlichen Lebens zu zeihen. Wenn er es als legitim bezweifelt und be­streitet, sie im Sinne ewiger Werte und allzeit wirksamer Mächte in Ge­schichte und Gegenwart zu behaupten, so geschieht es um die ausnahmslo­se Unbedingtheit ihres Anspruchs in der Herausforderung konkreter Ver­nunft durch den realen Widerspruch besser zu wahren als ein Denken, das entweder mit zynischen Offenherzigkeit die Erfahrung ihrer versöhnenden Macht zu einem Privileg von wenigen entwürdigt oder mit bösartig affir­mativer Dialektik das Leiden der einzelnen als den Weg glorifiziert, auf dem die Heilkraft der Idee dem Ganzen zuteil wird."107 Für den Materialis­mus bestimmen sich vielmehr die praktischen Ideen „ausgehend von den Bedürfnissen der Allgemeinheit und werden gemessen an dem, was mit den vorhandenen menschlichen Kräften in sichtbarer Zukunft möglich ist"108. Auf eine bessere Welt hin gilt es die schlechtere Gegenwart zu transzendieren, ihr Lebensmuster zu transformieren statt zu wiederholen. Und an diesem Prozeß hatte wirkliche Philosophie zu allen Zeiten ihren

 

 

 

105 Aa0., 66.

 

106 Ebd.

 

107 Vgl. Dazu M. Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philo­sophie (1934), in: Kr. Th. I, 150ff.

 

108  M. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, s. Anm. 29, 66.

 

 

 

 

 

Anteil. „Die wahre gesellschaftliche Funktion der Philosophie liegt in der Kritik des Bestehenden." Nur Unverstand oder Privatinteresse können diese Kritik mit brutaler Verdammung oder nörgelndem Raisonnement verwechseln. Die Kritik, die M. Horkheimer meinte,

 

 

 

„ist jene intellektuelle und schließlich praktische Anstrengung, die herrschenden Ideen, Handlungsweisen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unreflektiert, rein gewohn­heitsmäßig hinzunehmen; die Anstrengung, die einzelnen Seiten des gesellschaftlichen Lebens miteinander und mit den allgemeinen Ideen und Zielen der Epoche in Einklang zu bringen, sie genetisch abzuleiten, Erscheinung und Wesen voneinander zu trennen, die Grundlagen der Dinge zu untersuchen, sie also, kurz gesagt, wirklich zu erkennen"'109.

 

 

 

Kritik im Sinn der dialektischen Theorie M. Horkheimers ist insofern nichts Geringeres als die genuine Erkenntnis selbst unter den Bedingungen der geschichtlichen Differenz von Wahrheit und Wirklichkeit.

 

 

 

 

 

 

 

IV

 

An diesem Punkt, d. h. bei der Frage der Erkenntnis im Stand des Unter­schieds von Wahrheit und Gegebenheit, tritt auch der andere Gegensatz der kritischen Theorie zutage: so wenig sie dem metaphysischen Idealismus Konzessionen macht, ohne doch dem Gedanken untreu zu werden, „daß es möglich sei, die Vernunft unter Menschen und Nationen heimisch zu ma­chen"111, so wenig verschreibt sie sich mit ihrem Anti-Idealismus schon dem Denken, das den Geist der positiven Wissenschaften, im besonderen der modernen Naturwissenschaften, gegen alles, was ihm nicht konform ist, zum Geist der Wahrheit selber befördert. Wie die kritische Theorie dem metaphysischen Idealismus widerspricht, so um nichts weniger auch dem logischen Empirismus oder Neopositivismus.

 

   Der Metaphysik im weitesten Sinn wohnt seit alters und unausrottbar das Mißtrauen gegen die sinnliche Wahrnehmung als Quelle der Erkennt­nis und die Neigung ein, das sinnliche Leben zur bloßen Erscheinung ge­gen die Tätigkeit des Geistes als das in Wahrheit allein Wesentliche herab­zusetzen. Symptomatisch ist die „Degradierung des Zeugnisses der Erfah­rung" zugunsten einer metaphysischen Überwelt des reinen Geistes. Das bedingt in der Gegenwart auch eine prinzipielle Reserve gegenüber der neuzeitlichen Wissenschaft mit ihrer ganz anderen Einschätzung der sinn­lichen Gewißheit. Kraft ihrer positiven Naturerkenntnis hatte sie zu Beginn der bürgerlichen Neuzeit den vernünftigen Widerspruch gegen das System

 

 

 

109 M. Horkheimer, Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie (1940), in: Kr. Th. 11,304.

 

110 Aa0., 110.

 

111 Ebd.

 

 

 

 

 

der Metaphysik wirkungsvoll artikuliert. Von ihren historischen Anfängen an lebt im Typus der modernen Naturwissenschaft eine auf die Liquidie­rung aller metaphysischen Begriffe gehende „positivistische Tendenz", die M. Horkheimer 1937 in seiner großen Auseinandersetzung mit dem Neo­positivismus damaliger Prägung112 mit den Sätzen umrissen hat: „Einzig die Erfahrung, die gereinigte Erfahrung in der strengen Form, die sie in der Naturwissenschaft erhalten hat, heißt nach ihr Erkenntnis. Wissen ist nicht Glauben oder Hoffen, und was die Menschheit weiß, ist in der Wissen­schaft am angemessensten formuliert, mögen im übrigen Beobachtungen und Sprache des Alltags, von denen die Wissenschaft ja ausgeht, als grobe Behelfsmittel daneben weitere Dienste leisten."113 Mit dem Prinzip der Er­fahrung hat sich in der modernen Physik seit Galilei das Prinzip der ma­thematischen Gleichung zum Inbegriff des exakten Wissens verbunden. Dieser Synthese weiß sich auch der jüngere Positivismus des 20. Jahrhun­derts als der universalen Erkenntnisform verpflichtet. „Der gegenwärtige Positivismus", schrieb M. Horkheimer 1937, „pflegt sich selbst einerseits auf Hume, anderseits auf Leibniz zu berufen. Den skeptischen Empirismus vereinigt er mit einer Rationalisierung der Logik, die er für die Wissen­schaften produktiver machen will. Sein Ideal ist die Erkenntnis als mathe­matisch formulierte, aus möglichst wenig Axiomen zu deduzierende Uni­versalwissenschaft, ein System, das es gestattet, den wahrscheinlichen Ein­tritt aller Ereignisse zu berechnen."114

 

   Gegen die philosophische Schule des logischen Empirismus hat M. Horkheimer den entschiedenen Widerspruch der dialektischen Theorie zu einer Zeit erhoben, als es den Anschein hatte, der Neopositivismus sei nicht nur die „radikalste antimetaphysische Schule" sondern auch die gei­stige Macht, die jeder Form des totalitären Unwesens wesenhaft entgegen­gesetzt ist und zu widerstehen vermag. Damals unternahm es M. Horkhei­mer, „den Mangel dieser Denkart und ihren Zusammenhang mit der Ge­schichte des Bürgertums aufzuweisen"115 und deutlich zu machen, daß der so antimetaphysisch und antimythologisch gesonnene Neopositivismus „nicht weniger fest als die Metaphysik mit den herrschenden Zuständen verknüpft, und auch für ihn der innere „Zusammenhang mit den totalitären Staaten" symptomatisch sei: „Neuromantische Metaphysik und radikale

 

 

 

112 Vgl. M. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, s. Anm. 29, 56ff.; ders., Der neueste Angriff auf die Metaphysik (1937), in: Kr. Th. 11, 82ff. Zur weiteren Entwick­lung des Widerspruchs der kritischen Theorie gegen den Positivismus vgl. die wichtigste Abhandlung von Albrecht Wellmer, Kritische und analytische Theorie, in: Marxismus­studien 6. Folge: Weltreligionen u. Marxismus vor der wissenschaftlich-technischen Welt, hg. v. U. Duchrow, Tübingen 1969, 187ff.

 

113 M. Horkheimer, Der neueste Angriff auf die Metaphysik, s. Anm. 112, 88.

 

114 AaO., 88.

 

115 AaO., 90f,

 

 

 

 

 

Positivismus gründen beide in der traurigen Verfassung eines großen Teils des Bürgertums, das die Zuversicht, durch eigene Tüchtigkeit die Verhält­nisse zu verbessern, restlos aufgegeben hat und aus Angst vor einer ent­scheidenden Änderung des Gesellschaftssystems sich willenlos der Herr­schaft seiner kapitalkräftigsten Gruppen unterwirft."116 Zu dieser These hat­te sich der dialektischen Theorie die kritische Analyse der Grundlagen des logischen Empirismus verdichtet.

 

   Für den Neopositivismus kommen allein Mathematik und Erfahrung als die konstitutiven Elemente im Begriff einer realen Theorie in Betracht. Damit behauptet er, daß die seit Galilei zuerst in Europa und unterdessen auf der ganzen Erde herrschend gewordene Naturwissenschaft normativ den Typus von Wissenschaft überhaupt verkörpere. Darin liegt schon die Forderung, auch die Lehre von der Gesellschaft müsse sich den Formal­prinzipien der mathematischen Logik und der ihr kongruenten Erfahrung unterwerfen, wenn sie nicht auf ihren wissenschaftlichen Charakter und damit auf den Anspruch wahrer Theorie verzichten will. Gegen diesen me­thodischen Monopolismus hat die kritische Theorie ebenso unnachgiebig opponiert wie gegen sein ökonomisches Pendant. Sie bestreitet damit gar nicht die Rechtmäßigkeit und Bedeutung der mathematischen Physik sel­ber; wohl aber verweigert sie deren Erhebung in den Rang des absolut ver­bindlichen Modells von Erkenntnis und Theorie überhaupt die geforderte Anerkennung. Sie betreibt in dieser Hinsicht Destruktion der reflektieren­den Hypostasierung physikalischer Theoriebildung. Eine grundsätzliche Einrede richtet sie gegen die Definition der Kategorie der Erfahrung im Kontext der mathematischen Physik, Erfahrung, wie sie der logische Empi­rismus versteht, ist keineswegs dasselbe, was Locke, Hume oder Berkeley als „experience", d. h. als die leibhaftige Wahrnehmung eines wirklichen und – das war ihre Ideologie – wirklich menschlichen Individuums zur un­abdingbaren Bedingung wahrer Erkenntnis erheben wollten. War ihr Be­griff von Erfahrung fragwürdig, weil sie das ihnen gegenwärtige Indivi­duum der Gattung Mensch mit dem menschlichen Individuum allzu fraglos identifizierten, so ist es der logische Empirismus nicht weniger, wenn er die Kategorie der Erfahrung ihrer Verträglichkeit mit einem mathemati­schen Kalkül als der letzten Bedingung ihres Sinnes unterwirft. Er redu­ziert damit das Prinzip des klassischen Empirismus, das emanzipatorisch die vollständige Erfahrung, d. h. die uneingeschränkte Sinnlichkeit eines jeden menschlichen Individuums gemeint hat, auf das Prinzip der gleich­förmigen Wiederholung des gleichen Sachverhaltes in sinnlicher Präsenz,

 

d. h. auf die Beobachtung einer mechanischen Skala. Das bedeutet die

 

de­finitorische Gleichsetzung von Erfahrung und Experiment, d. h. prinzipiell wiederholbarer Erfahrung mit der Möglichkeit quantitativer Identifizie‑

 

 

 

116 Aa0., 90.

 

 

 

 

 

rung. Hier wird die Erfahrung selbst auf einen Fall von Erfahrung einge­schränkt. Das Resultat besteht in der Reduktion des Kriteriums wahrer Wirklichkeit auf die Möglichkeit der Reproduktion desselben Tatbestan­des. Nichts anderes als diese Operation definiert indessen die Kategorie des Faktums, und sie ist universal. Ihr verfällt darum schließlich auch das Subjekt, das sie einmal um seiner Selbstbestimmung willen hervorgebracht hatte. Die restriktive Definition der Erfahrung durch die Möglichkeit der Reproduktion zu allen Zeiten und an allen Orten impliziert die Negation des besonderen Subjekts von Erfahrung. „Alles, was im Idealismus Idee und Zielsetzung, im Materialismus gesellschaftliche Praxis und bewußte geschichtliche Aktivität hieß, hat nach dem Empirismus, soweit er es über­haupt als Voraussetzung der Erkenntnis zuläßt (Otto Neurath), mit der Wissenschaft wesentlich nur als Beobachtungsgegenstand und nicht als konstruktives Interesse und Direktiv zu tun."117 Weder das Moment der Selbstbestimmung noch das der Grenzüberschreitung qualifizieren die Ka­tegorie des Subjekts im wesentlichen Sinn, vielmehr kennzeichnet es den Neopositivismus, daß er „das denkende Subjekt darauf reduziert, Proto­kollsätze unter allgemeinere Aussagen zu befassen und wieder daraus ab­zuleiten"118. Die Identifizierung von Erfahrung als Experiment bedeutet ineins mit der „Hypostasierung des abstrakten Begriffs des Gegebenen oder der Tatsache"119 zugleich die Eskamotierung des Moments der Indivi­dualität aus dem Subjekt der Erkenntnis und die Restriktion der subjekti­ven Tätigkeit auf die Feststellung von Tatsachen und deren Verknüpfung zu einer möglichst umfassenden Einheit durch Beziehung auf Allgemeines.

 

   Die besondere Ausprägung, die das „Prinzip, daß unser Wissen über die Welt von den Sinnen ausgeht“120, im Neopositivismus erhalten hat, steht im engsten Zusammenhang mit der rationalistischen Komponente des logi­schen Empirismus. In der rationalistischen Philosophie des 17. Jahrhun­derts findet M. Horkheimer jene Auffassung vorherrschend, „nach der nicht so sehr die Aufmerksamkeit auf das einzelne Seiende, wie es nun einmal besteht, entscheidend ist, als die Fähigkeit, das Seiende in Gedan­ken und in Wirklichkeit zu konstruieren".121 Diesem „Glauben an die voll­ständige Beherrschbarkeit der Natur und Menschenwelt" diente „die Ma­thematik ( ... ) als Mittel, die Gegenstände aus Prinzipien zu erzeugen, die

 

 

 

117 Aa0., 95.

 

118 Aa0., 99; vgl. dazu auch M. Horkheimers Auseinandersetzung mit dem Positivis­mus in seiner „Kritik der instrumentellen Vernunft" (1947), in: Kr. I. V., 75ff.

 

119 M. Horkheimer, Der neueste Angriff auf die Metaphysik, s. Anm. 112, 105; vgl. auch M. Horkheimers Warnung vor dem Fetischismus der Tatsachen in „Verantwortung und Studium" (1954), in: Soc. II, 70ff.

 

120 M. Horkheimer, Der neueste Angriff auf die Metaphysik, s. Anm. 112, 93.

 

121 Ebd.

 

 

 

 

 

das Subjekt in sich selbst zu entwickeln vermag"122. Rationalistische An­sicht ist es: „Jedes Seiende hat sich in einer Wahrnehmung zu legitimieren. Aber wenn wir es bloß auf diese Weise kennen, ist es noch ein Ding an sich; erst wenn wir es machen können, wird es zu einem Ding für uns."123 Das „Problem der intellektuellen Durchdringung der Welt" würde erst dann nicht mehr beunruhigen, wenn es gelungen wäre, die ganze Welt aus möglichst wenigen letzten Prinzipien zu konstruieren; erst die Welt, die wir selbst aus Vernunft und mit Verstand hergestellt hätten, wäre demnach die Welt, deren wir mächtig und Herr sein können. Wenn es noch im An­satz des älteren Rationalismus lag, der Spontaneität des Subjekts der Ver­nunft als des ,Vermögens der Ideen' die entscheidende Bedeutung im grundsätzlich universalen Konstitutionsprozeß der Geschichte der Menschheit beizumessen, so scheint M. Horkheimer im Ausfall genau die­ses Faktors der subjektiven Spontaneität den hauptsächlichen Unterschied des logischen Empirismus zu jenem Ansatz zu sehen. Und indem aus dem rationalistischen Ansatz nur die instrumentelle Seite der Mathematik in die Verbindung mit dem empiristischen Prinzip eintrat, widerfuhr dem die Austreibung des charakteristischen Moments individueller Subjektivität. Die nächste Folge aber mußte dann die definitive Verwandlung des ratio­nalistischen Prinzips der Konstruktion des Objekts in das positivistische der Reproduktion des Faktischen sein, von dem es nur noch quantitative Veränderungen, wie Ausdehnung und Verdichtung, geben kann. Der Grundsatz der Erfahrung und der Grundsatz der Konstitution haben in ihrer neopositivistischen Verbindung gegenüber ihrer Bedeutung für den älteren Empirismus und den älteren Rationalismus tiefreichende Abwandlungen erlitten: die Erfahrung ist auf das grundsätzlich wiederholbare Experiment reduziert worden, und die Konstruktion ist in die expansive Rekonstruktion des Bestehenden übergegangen. Hier wird auf der einen Seite „die je aner­kannte Wissenschaft in ihrer gegebenen, mit dem Bestehenden versöhnten Struktur und Betriebsweise als höchste geistige Autorität überhaupt“124 ge­setzt; und damit wird auf der anderen Seite zugleich, worüber das Pochen auf vorgeblich konkrete Tatsachenerfahrung nicht hinwegtäuschen kann, mit größter Konsequenz die Artikulation individueller Subjektivität als unwissenschaftlich und d.h. als nicht zur Wahrheit dieser Welt gehörig und für ihre Erkenntnis gleichgültig ausgeschlossen. Indem die Wissen­schaft von der Art der neuzeitlichen Naturwissenschaft mit Denken und Erkenntnis, Wissen und Theorie schlechthin gleichgesetzt wird, muß sie ebenso wie ihre philosophische Dogmatik das Geschäft der Erhaltung und Befestigung dessen betreiben, was geworden ist. Durch die dogmatische

 

 

 

122 Ebd.

 

123 Ebd.

 

124 Aa0., 94

 

 

 

 

 

Gleichung von Wissenschaft nach dem Muster der mathematischen Physik und Theorie überhaupt wird „dem Denken ( ... ) die Funktion abgesprochen, die Beobachtungen sowie die Art, in der die Wissenschaft sie zusammen­faßt, auf Grund einer auch die Wissenschaft selbst und ihre Formen noch einbeziehenden Theorie zu beurteilen"125. Auf diese Weise wird aber auch der einfache Sachverhalt der historischen Korrelation von Natur und Ge­sellschaft mißachtet, dessen Relevanz für den jeweiligen Stand der Natur­wissenschaft M. Horkheimer einmal in dem Satz aussprach: „Die heutige Wissenschaft ist das Wissen, das die gegebene Gesellschaft in der Ausein­andersetzung mit der Natur entwickelt hat."126 Sein Vorwurf ist, daß die Erkenntnis- und Wissenschaftslehre des logischen Empirismus in einer Weise, die nicht bedeutungslos für den Wahrheitswert der Erkenntnis sein kann, von der gesellschaftlichen Aktivität abstrahiert, durch die der Ge­genstand wissenschaftlicher Erkenntnis im Lauf der bisherigen Geschichte ständig verändert worden ist, so daß es sich schlechterdings verbietet, die „Physis" der aristotelischen Naturphilosophie mit der „Natur" der mathe­matischen Physik zu identifizieren, obwohl es ebenso falsch wäre, ihre be­ziehungslose Verschiedenheit zu behaupten. Den Vermittlungsprozeß durch die Geschichte der menschlichen Gesellschaft in Europa aber klam­mert die positivistische Dogmatik bei der Bestimmung der Kategorie des Erkenntnisgegenstandes nicht weniger radikal aus als den Charakter der Individualität aus dem Begriff des Subjekts der Erkenntnis, der geschicht­liche Prozeß und das individuelle Subjekt sind Größen, die der logische Empirismus nicht nur nicht kennt, sondern an deren Auslöschung ihm so­gar gelegen sein muß — aber dies alles nur um der Wahrheit willen.

 

   Mit der Stimme des individuellen Lebens brächte er jedoch auch die Stimmen aller unglücklichen und verzweifelten, mißhandelten und hun­gernden, mißachteten und betrogenen, mißbrauchten und geschändeten Menschen zum Verstummen und zugleich damit vernachlässigt er als für den gegenwärtigen Zustand akzidentiell die wie schwach auch immer ent­wickelten Tendenzen zu seiner Veränderung, mit der die objektiven Ursa­chen jenes individuellen Leidens aufgehoben werden könnten. Für ein auf Tatsachen und sonst nichts eingeschworenes Denken können gewisse sub­jektive Interessen, zumal solche von der Art des moralischen Gefühls der Empörung gegen jene objektiven Verhältnisse, in denen Individuen der menschlichen Gesellschaft infolge der Organisation dieser Gesellschaft leiden müssen, nur als störender Faktor und Fehlerquelle der Erkenntnis erscheinen. Im dezidierten Widerspruch zu dieser Konsequenz oder Vor­aussetzung des logischen Empirismus begreift die dialektische Philosophie im materialistischen Sinn M. Horkheimers „das sich geschichtlich wan‑

 

 

 

125 Ebd.

 

124 AaO., 83.

 

 

 

 

 

delnde Interesse an der Entfaltung des Allgemeinen, dieses subjektive und sich selbst verändernde Moment",

 

 

 

„als inhärierenden Faktor der Erkenntnis (…) Alle Grundbegriffe der dialektischen Ge­sellschaftstheorie wie Gesellschaft, Klasse, Ökonomie, Wert, Erkenntnis, Kultur und so fort bilden Teile eines theoretischen Zusammenhangs, den subjektives Interesse durch-herrscht. Tendenzen und Gegentendenzen, aus denen die geschichtliche Welt sich konsti­tuiert, bedeuten Entwicklungen, die ohne den Willen zum menschenwürdigen Dasein, den das Subjekt in sich selbst erfahren oder vielmehr produzieren muß, nicht zu erfassen sind."127

 

 

 

Dergestalt beharrt die dialektische Theorie der Gesellschaft auf der Ver­söhnung des Allgemeinen und der einzelnen, des Einen und der Vielen als ihrem eigensten Zweck und dem einzig vernünftigen Sinn geschichtlicher Aktivität. Aber sowohl das subjektive Interesse, das die unter den gegen­wärtigen Verhältnissen leidenden Individuen an deren Aufhebung haben, als auch die geschichtlichen Tendenzen, die in der gegenwärtigen Situation auf deren Verwandlung abzielen, liegen außerhalb des Horizonts von Wis­senschaft, die durch die Prinzipien des logischen Empirismus definiert wird.

 

   In Solidarität mit den leidenden Individuen in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft hat die kritische Theorie gegen den metaphysi­schen Idealismus, vor allem in seiner spätbürgerlichen Variante opponiert, aus demselben Grund hat sie auch dem logischen Empirismus die Aner­kennung verweigert. Die Behauptung, „der Begriff einer vom Interesse durchherrschten Theorie sei unvereinbar mit objektiver Wissenschaft"128, ist von ihr als die Sentenz des apologetischen Bewußtseins durchschaut worden, das die begriffliche Wiederholung des Bestehenden als die Wahr­heit selber prätendiert. „Diese Ideologie, die Identifikation des Denkens mit den Fachwissenschaften, läuft angesichts der herrschenden ökonomi­schen Gewalten, die sich der Wissenschaft wie der gesamten Gesellschaft für ihre besonderen Zwecke bedienen, in der Tat auf die Verewigung des gegenwärtigen Zustands hinaus."129 Die kritische Theorie aber meint das genaue Gegenteil: das geschichtliche Ende der „zerrissenen Gesellschaft der Gegenwart", deren widersprüchliche und vernunftlose Form, bedingt durch die ökonomischen Prinzipien der freien Konkurrenz und des gerech­ten Tausches, die Ursache für die nicht nur materielle sondern auch seeli­sche Not einer immer größer werdenden Masse der ihr angehörigen Indivi­duen ist. Für sie ergreift das kritische Denken Partei zum Zweck ihrer dau-

 

 

 

127 Aa0.,

 

128 Aa0., 114.

 

129 Aa0., 128f.

 

130 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, s. Anm. 3, 159.

 

­

 

 

 

erhaften Emanzipation von gesellschaftlich bedingtem Unheil durch den Aufbau einer rationalen und integralen Gesellschaft.

 

   „Das Ziel, das es erreichen will, der vernünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseiti­gung nicht schon gegeben."131 Ihr unmittelbares Dasein und das unmittel­bare Bewußtsein von ihr können nicht mehr als der Ausgangspunkt einer historischen und kritischen Analyse ihrer Bedingung durch die herrschende Form der Vergesellschaftung sein. Erst deren bewußte und nach Maßgabe des gegenwärtigen Leidens in ihr bestimmte Negation enthält das Ziel ei­ner Welt, die vom Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft be­freit ist. Diese begriffliche Negation, die zu artikulieren M. Horkheimer für eine der ganz entscheidenden Aufgaben der Philosophie hält,132 ist als theo­retische Kritik des Bestehenden, die den Projektbegriff des besseren Künf­tigen involviert, nicht als solche schon der Anfang seiner geschichtlichen Realisierung. Aber wenn auch Theorie und Praxis nicht identisch sind, wie es der metaphysische Idealismus meint, und wenn der theoretischen Kritik der heutigen Gesellschaft nicht automatisch oder kraft ihrer Evidenz mit Notwendigkeit die kritische Praxis auf dem Fuß folgt, so kann daraus noch nicht die affirmative Trennung von Theorie und Praxis, wie sie der logi­sche Empirismus verficht, legitimiert werden. Vielmehr liegt ihre Über­windung gerade im Interesse einer vernünftigen Gesellschaft. In der bishe­rigen Geschichte und Gegenwart ergibt sich die erforderliche Einheit nicht schon aus der Theorie; unter den gegenwärtigen Bedingungen kann es sie nur als bewußte geschichtliche Aktivität im Kampf gegen das Unrecht und Unheil geben, das die antagonistische Gesellschaft ohne Not gebiert.

 

 

 

131 Aa0., 165.

 

132 Vgl. dazu M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, s. Anm. 67, 169ff.