PROSA UND LYRIK

 

Essays:

Zum Krieg in der Ukraine

Der vierte Reiter

Die große Solidarität

Über Suharit Bhakdi

 

II

Kurze Erzählungen, Verse

 

 

I

Essays

Zum Krieg in der Ukraine

 

In den Krimis trinken die Kommissare am Tatort erst einmal einen Kaffee, pflaumen sich gegenseitig ein bisschen an, machen Witze. Spätestens wenn sie die Angehörigen aufsuchen, um ihnen die schlimme Nachricht zu überbringen, ändert sich der Ton des Films. Wir erleben den Schmerz der Eltern der Ermordeten. Sie sind geschockt, verzweifelt. Oft allerdings ist die erste Frage des Vaters dann: Wer hat das getan? Und da wissen wir als Krimi-Experten. Der Mann zieht gleich los, um die Ermordung seines Kindes zu rächen.

   Ein Gutachter vor Gericht steigt tief in die Vorgeschichte des Verbrechers ein, der den Mord begangen hat, listet die Faktoren auf, die im Leben des Mörders eine Rolle gespielt haben. Die Angehörigen des Opfers sitzen im Gerichtssaal blass auf ihren Bänken.

   Gegenüber dem Krieg in der Ukraine befinde ich mich, da ich nicht zu den unmittelbar Betroffenen gehöre, ein bisschen in der Lage des Kommissars, und wie der Gutachter vor Gericht habe ich so viel Distanz zum Geschehen, dass die Empathie mit den Leidenden mir das Nachdenken nicht verunmöglicht, ich zurückgehen kann in die Vorgeschichte der Hauptbeteiligten. Das sind in diesem Fall die Ukraine, Russland und die USA. Ich beginne mit den USA.

 

   Sie werden nicht erwarten, dass ich jetzt all die schönen Dinge aufzähle, die es in den Vereinigten Staaten ja wirklich zu entdecken gibt. Und wir wollen auch nicht vergessen, welche Opfer das Land gebracht hat, um dabei zu helfen, Hitler und den deutschen Faschismus niederzuringen. Ich beschränke mich hier auf die Geschichte der USA nach 1945 und beginne mit einer kurzen Aufzählung der Interventionen, in denen sie sich als sogenannte „globale Ordnungsmacht“ betätigt haben.  

   Schon die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki waren eine Machtdemonstration ohne militärischen Sinn, der Zweite Weltkrieg war bereits entschieden. In den Jahren danach folgten eine ganze Reihe von fast immer geglückten Umsturzversuchen durch die USA und ab und zu auch eine ausgewachsene Invasion: 1954 Iran und Guatemala, 1961 Kuba, 1964 Brasilien, 1965 Dominikanische Republik, 1965/66 Indonesien  (500.000 Tote), 1965 bis 1973 Vietnam (über 1.300.000 Tote), 1973 Chile. In den 1980er Jahren Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Granada, Afghanistan, 1991 Irak (danach 10 Jahre Embargo, laut UNICEF 1 Million Tote, davon 500.000 Kinder), 1998 wieder Irak, 1999 Serbien, 2001 wieder Afghanistan (danach in 20 Jahren 240.000 Tote), 2003 wieder Irak (500.000 Tote), 2011 Libyen, 2019 Venezuela.

   Wofür dieses ganze ungeheuerliche Blutvergießen? Um "freedom and democracy" zu verbreiten? Vielleicht. Sicher aber auch, um globale Dominanz, um Weltherrschaft durchzusetzen.

 

   Im Gegensatz zu der Idee einer multipolaren Welt steht die einer unipolaren Welt, also von einer einzigen Macht dominierten Welt. Dazu gehört der Anspruch, kein anderes Machtzentrum zuzulassen. Dem steht nach dem Zerfall der Sowjetunion Russland im Weg, weil es nämlich darauf besteht, selber Machtzentrum zu sein, eins neben anderen. Das flächenmäßig größte Land der Erde will sich dem Anspruch einer einzigen Weltmacht nicht unterordnen. In diesem Fall nun befinden sich die USA in einem Dilemma. Anders als bei den anderen größeren oder kleineren Schurkenstaaten auf der Welt haben sie es jetzt mit einer großen Atommacht zu tun. Interkontinentalraketen gewähren eine halbe Stunde Vorwarnzeit. Da ist im Falle eines Erstschlags ein Zweitschlag von der anderen Seite zu erwarten. Und wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.

   Seit der erfolgreichen Zündung einer sowjetischen Atombombe am 29. August 1949 versuchen die Regierungen der USA, diesem Dilemma zu entkommen. Auf dem Feld der imperialistischen Konkurrenz ist nicht der Besitz von Atomwaffen das ultimative Mittel, mit dem man sich in der Staatenwelt Respekt verschafft, sondern die Fähigkeit, sie ungestraft einsetzen zu können. Die Regierungen der USA treibt die Frage um: Wie kann ich das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens zum Kippen bringen? Wie kann ich einen Atomkrieg gewinnen ohne selbst sein Opfer zu werden? Wie kann ich Erstschlagfähigkeit erreichen? Soviel darf ich schon jetzt verraten. Sie haben das Problem dermaßen hartnäckig und konsequent über die Jahrzehnte hinweg verfolgt, dass sie kurz davor stehen, es zu lösen. Durch welche Maßnahmen?

 

   Erstens. Die USA, von zwei Weltmeeren umgeben quasi ein Inselstaat, sind auf dem von ihnen nicht bewohnten eurasischen Kontinent leise und unauffällig, Zug um Zug, Russland so nahegerückt, dass sie jetzt an seinen Grenzen stehen
   1999 begann die Erweiterung der NATO durch die Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien. Wurde dann fortgesetzt mit Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Albanien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien. Auf dem Bukarester Gipfel der NATO 2008 haben die USA die Entscheidung durchgesetzt, dass auch die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden können.

   Das alles, obwohl bei den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands Gorbatschow versprochen worden war, die NATO nicht einen Zentimeter über die Oder hinaus auszudehnen.

   Da im Norden nicht bloß das NATO-Mitglied Norwegen, sondern auch die bisherigen Nichtmitglieder Schweden und Finnland ihre Militärpolitik am Bündnis ausrichten und die NATO eine Vielzahl von kleinen, schlagkräftigen Truppen mitsamt schweren Waffen dauerhaft an der russischen Grenze stationiert hat, die ununterbrochen große und kleine Manöver durchführen, haben die USA Russland vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer eine Dauer-Invasionsdrohung beschert. Bis in den Februar 2022 ließen die USA, die NATO und die EU das Verlangen Russlands, eine Sicherheitszone zwischen NATO/EU und Russland einzurichten, ins Leere laufen. 

 

Zweite Maßnahme zum Erreichen der Erstschlagfähigkeit: Aufrüstung. Der Westen ist schon heute seinem potentiellen Gegner in der Kategorie der konventionellen Waffen haushoch überlegen. Russland gab im vergangenen Jahr 65 Milliarden Euro fürs Militär aus, die NATO 1000 Milliarden; 700.000 russischen Soldaten stehen 3 Millionen auf Seiten der NATO gegenüber; die NATO besitzt das Doppelte an Kampfpanzern, das 3-fache an taktischen U-Booten, das 4-fache an Kampfflugzeugen, das 8-fache an Kriegsschiffen. All diese Waffensysteme werden mit Hochdruck weiterentwickelt und aufgestockt, zugleich ganz neue Waffensysteme erprobt.

   Aber vor allem geht es den USA um eine Potenzierung der nuklearen Schlagkraft. Deshalb wird der Wirkungsgrad der auf Atom-U-Booten wie auf landgestützten Raketen dislozierten Sprengköpfe so sehr verbessert, dass diese Sprengköpfe dieselbe Vernichtungswirkung erreichen wie die stärksten Sprengköpfe der Interkontinentalraketen im US-Arsenal. Durch die Verlagerung auf Unterseeboote, die die Raketen viel näher am Zielobjekt abschießen können, hat das US-Militär zudem eine signifikant größere Fähigkeit erreicht, einen Überraschungsschlag gegen russische Raketensilos, Abwehrstellungen und Kommandozentren durchzuführen. Denselben Vorteil bieten in Europa dislozierte Atomraketen. Nach der Kündigung des INF-Vertrages, der langestützte Mittelstreckenraketen verboten hat, werden diese Raketen – ganz wie die Pershings in den 1980er Jahren – Russland mit einer atomaren Vernichtungsdrohung von europäischem Boden aus konfrontieren. Europa fällt die ehrenhafte Aufgabe zu, das bevorzugte Gefechtsfeld für die nukleare Auseinandersetzung mit Russland zu stellen. Um die atomaren Sprengköpfe auch zuverlässig ins Ziel zu befördern, werden Trägerraketen entwickelt, die ihr Ziel in Hyperschallgeschwindigkeit (d.h. in mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit) und auf nicht-ballistischen Flugbahnen ansteuern. Russland bleibt dann keine Möglichkeit, die Gefahr zu lokalisieren und zu reagieren.

   Des weiteren ergänzen luftgestützte taktische Atombomben (die u.a. in der Eifel, in Büchel, lagern) das Spektrum der Bedrohung, sowie eine Raketenabwehr in Rumänien und in Polen, mit Marschflugkörpern, die sich auch offensiv (etwa um Offensivflugkörper Russlands noch vor dem Start zu zerstören) verwenden lassen. Denn auch die Russen haben inzwischen Hyperschallwaffen, die, einmal abgeschossen, schwer zu orten sind. „Aber unsere sind doch nicht gegen Russland gerichtet. Es sind doch nur Abwehrraketen gegen den Iran, nur gegen Nordkorea. Wir  werden das nicht gegen euch einsetzen. Schaut uns in die ehrlichen Augen!“ Wie schon bei der NATO-Osterweiterung ist auch in diesem Fall falsch gespielt worden. Tatsächlich neutralisieren diese Raketensysteme russisches Zweitschlagpotential, sind damit ein weiterer Schritt in Richtung nuklearer Erstschlagfähigkeit der USA.

   Es soll noch erwähnt werden, dass die zu Reagans Zeiten begonnene Strategic Defense Initiative (SDI) im Weltraum inzwischen sehr weit entwickelt ist und sich auch an ihrem Zweck nichts geändert hat, nämlich die Pattsituation zu überwinden und der Nation endlich diejenigen Mittel zu verschaffen, die den großen Krieg gegen die Atommacht im Osten erfolgreich führen lassen.

 

Die dritte Maßnahme, mit der Russland verunmöglicht werden soll, den Vereinigten Staaten auf ihrem Weg, einzige Weltmacht zu werden, in die Quere zu kommen, ist eine ökonomische: die Sanktionen. Sie stellen den Versuch dar, Russlands Wirtschaft in einer Weise zu schädigen, dass es auch den letzten Anspruch auf Mitsprache im Konzert der Mächtigen aufgeben, aber vor allem als Atommacht sich nicht mehr halten kann.

    Nach der Auflösung der Sowjetunion hat Russland alles dafür getan, sich in den Weltmarkt zu integrieren. Die russischen Energieexporte werden jetzt bekämpft - siehe Nord Stream 2 - sowie das Weltmarktgeschäft der bedeutendsten IT-Firmen usw. Mit dem Angriff auf die Benutzung des Weltfinanzmarkts findet ein Angriff auf das Wachstumsmittel schlechthin statt, von dem Russland abgeschnitten werden soll. Putin muss zu dem Schluss kommen, dass in absehbarer Zeit Russland nicht mehr in der Lage sein wird, seine Streitkräfte so zu modernisieren, dass sein Land mit der NATO Schritt halten kann. Diese Situation setzt natürlich die russische Regierung unter Zeitdruck. Vergessen wir nicht: Zum ersten Weltkrieg kam es nicht zuletzt deswegen, weil die Militärs in mehreren Ländern zu der Einschätzung kamen, ein längeres Warten mit dem Zuschlagen verschaffe der Gegenseite einen Vorteil.

 

Vierte Maßnahme. Auf all die Entwicklungen in der Waffentechnik der USA hat Russland verständlicherweise versucht, mit neuen, eigenen Waffensystemen zu antworten, freilich ausgehend von einem sehr viel geringeren Budget. Nicht zuletzt hat Putin, um dieses für Russland ruinöse Wettrüsten und die immer größere Bedrohung seines Landes zu beenden, dem Westen unermüdlich Verträge über eine gemeinsame Sicherheit angeboten.    

   2001 hielt Putin eine Rede vor dem Deutschen Bundestag, etliche Sätze sagte er auf Deutsch. Er machte den Vorschlag, die mit dem Ende der Sowjetunion aufgebrochene Sicherheitsarchitektur, die in gegenseitiger Bedrohung durch NATO und Warschauer Pakt bestanden hatte, durch eine kooperative, das ganze Eurasien umfassende neue Sicherheitsvereinbarung zu ersetzen. Er schlug vor, es möge eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon eingerichtet werden. Auch einen Beitritt Russlands zur Nato bot er an. Die Parlamentarier standen auf und applaudierten.

   2007, inzwischen waren 10 Länder des Warschauer Paktes in die NATO eingetreten, versuchte Putin es erneut. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz warnte er, drohte, beschwor die Zuhörer: „Wir, Russland, wir möchten mit euch kooperieren. Alles andere führt in die Katastrophe.“

   2008 hat Russland eine Initiative zum Abschluss eines Europäischen Sicherheitsvertrags vorgelegt. Die Kernaussage war, dass kein Staat und keine internationale Organisation im euro-atlantischen Raum seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer stärken kann.

   Noch im Dezember 2021 hat Russland den USA den Entwurf eines Abkommens zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika über Sicherheitsgarantien sowie den Entwurf eines Abkommens über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Russischen Föderation und der NATO-Mitgliedstaaten übermittelt.
   All diese Angebote wurden zurückgewiesen. Man hat Putin am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Stattdessen musste er erleben, dass von den USA beinahe alle Rüstungskontroll-Verträge gekündigt wurden, darunter der ABM Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, der schon erwähnte INF-Vertrag, der die Entwicklung und Aufstellung von nuklear bewaffneten landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen verbietet und der „Open Sky-Vertrag“, der die gegenseitige Information über den Stand der Waffen und ihrer Dislozierung beinhaltete.
   Diese Zurückweisung von Verhandlungen über gegenseitige Sicherheit und die Zerstörung der Verträge über eine Rüstungsbegrenzung sind die vierte Maßnahme der USA auf dem Weg zur Führbarkeit eines Atomkriegs gegen Russland.

 

Zbigniew Brzezinski, seit Jahrzehnten einer der einflussreichsten Berater der US-Regierungen, schreibt in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“: "Die Ukraine ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Die Welt aber beherrscht nur diejenige Macht, die auch Eurasien beherrscht.“ Die fünfte Maßnahme der USA auf dem Weg zur einzigen Weltmacht, besteht darin, die Ukraine aus der Verbindung mit Russland zu lösen und den größten Flächenstaat Europas in einen Frontstaat der NATO zu verwandeln.

   Also verteilten die USA – laut Victoria Nuland, der vormaligen Abteilungsleiterin für die EU im US-Außenministerium –  vier Milliarden Dollar an oppositionelle Kräfte in der Ukraine. Und es kam zum Maidan. Der Aufstand, anfangs als Protest gegen Korruption und Oligarchen durchaus legitim, geriet bald unter rechtsextreme Hegemonie und wurde geopolitisch instrumentalisiert. Sein Anlass war die von Seiten des Präsidenten Janukowitsch erfolgte Ablehnung eines EU-Assoziierungsvertrags, der eine scharfe Kappung unzähliger historisch gewachsener Verbindungen zu Russland kategorisch verlangte.

   Als Antwort auf den dann folgenden Putsch des nationalistischen, russlandfeindlichen Lagers annektierte Putin die Krim. Mit dem absehbaren Verlust von Sewastopol wäre die russische Schwarzmeerflotte vom Mittelmeer abgeschnitten worden. Selbst Gorbatschow hat gesagt, er hätte an Putins Stelle genauso gehandelt. 20 Militärbasen besitzt Russland im Ausland, 700 in 118 Ländern besitzen die USA. Putin war nicht bereit, ein weiteres Vordringen des Westens an die Grenze Russlands hinzunehmen. Für ihn war eine rote Linie überschritten. Und so unterstützte er auch militärisch den Aufstand im Osten der Ukraine, wo große Teile der Bevölkerung die von Kiew verfolgte russlandfeindliche Linie ablehnten. Wobei  er Lugansk und Donezk nicht darin bestärkt hat, sich von der Ukraine abzuspalten. Aber er wollte nicht zulassen, dass sie von Kiew militärisch vernichtet werden.

   Das von Kiew an die Front entsandte Militär, schlecht ausgerüstet und schlecht ernährt, ist zwar gemeinsam mit den fanatischen Freiwilligen-Milizen in der Lage, mit ihrem Dauerbeschuss die – nach offizieller Sprachregelung von „Terroristen“ geführten – Ostgebiete seinerseits zu terrorisieren, aber hat auf Dauer militärisch keine Erfolge. Im Gegenteil. Kiews Truppen werden geschlagen. Angesichts eines drohenden Durchmarsches der (pro-)russischen Kräfte im Osten werfen Deutschland und Frankreich eine Art Rettungsanker für die damalige Führung der Ukraine aus. Es kommt zu den Minsker Abkommen. Sie sehen vor: Waffenstillstand, Truppenentflechtung, Amnestie für die Kämpfer, Gewährung einer in der Verfassung verankerten Autonomie für den Donbass, freie Wahlen. Nach Erfüllung all dieser Punkte soll die vollwertige Kontrolle der Regierung des ukrainischen Staates über den von ihr jetzt nicht kontrollierten Teil der Grenze zu Russland wiederhergestellt, also die Einheit der Ukraine gewahrt werden. Während Russland mehrere Jahre hartnäckig die Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets anmahnt, weigert sich die Kiewer Regierung bis heute, auch nur einen einzigen der dreizehn Punkte des Abkommens zu erfüllen. Leisten kann sie sich das, weil sie die USA hinter sich weiß. Und weil die französische und deutsche Regierung, laut jüngsten Aussagen von Angela Merkel, mit dem Minsker Vertrag nichts anderes beabsichtigten, als der Regierung in Kiew Zeit für eine massive Aufrüstung zu verschaffen. 

   Das dem Konflikt um die ukrainischen Ostgebiete zugrunde liegende Problem ist, dass es nach dem Ende der UdSSR an der Peripherie Russlands in den 14 neu entstandenen Staaten russische Minderheiten mit entsprechendem Konfliktpotential gibt und junge Staaten generell eine Tendenz zu starkem Nationalismus aufweisen. In einigen Fällen hat das zu separatistischen Bestrebungen und territorialen Abspaltungen geführt, wie in Süd-Ossetien und Abchasien gegenüber Georgien, in Transnistrien gegenüber Moldawien, und seit 2014 besonders dramatisch in der Ukraine. In einem Klima gutnachbarschaftlicher Beziehungen, Kooperation und internationaler Entspannung wären solche Probleme lösbar.

 

2021 ist die Ukraine in einem katastrophalen Zustand. Die Verbindung mit Russland ist gekappt und im kapitalistischen Ausland ist ihre Wirtschaft nicht konkurrenzfähig. Der fruchtbare Boden wird von ausländischem Kapital aufgekauft. Statt des angekündigten flotten Wachstums wachsen nur die Schulden beim IWF und die Zahl derer, die ins Ausland gehen. Aus den 55 Millionen Bürgern der Ukraine zu Sowjetzeiten sind inzwischen offiziell 42 geworden. Die Menschen sterben etliche Jahre früher. Die Ukraine ist zum Armenhaus Europas geworden.

   An der diplomatischen Front verweigern Deutschland und Frankreich Präsident Selenskyj die Revision des Minsker Abkommens, was ihm zuhause als Zugeständnis an den „Aggressorstaat“ betrachtet wird. Die politischen Gegensätze in der Nation radikalisieren sich und werden von militanten Verbänden aus eigener Machtvollkommenheit ausgetragen. Die ukrainische Regierung steckt in einer ziemlich ausweglosen Klemme zwischen den unnachgiebigen Forderungen ihrer Schutzmächte und dem Zustand ihres Staatswesens,

   Angesichts dieser Zwangslage und einer militärisch enorm gestärkten Ukraine versucht Selenskyi einen Befreiungsschlag. Er macht sich daran, mit einem echten Krieg die drängenden Probleme seiner Nation schlagartig loszuwerden. Die Ukraine als Speerspitze der Demokratien würde endlich eine rückhaltlose Unterstützung erfahren und die gespaltene Nation sich angesichts der Bedrohung von außen in überwältigender Einigkeit wie ein Mann hinter ihre Führung stellen.

   Der Regierungschef traut sich das zu. Denn inzwischen ist das Land zwar nicht de jure, aber de facto in die NATO aufgenommen, der Neuaufbau ihrer Armee als verlässliche NATO-Teilstreitkraft gelungen. Die USA haben Schritt für Schritt die Ukraine in die militärische Struktur der Nato integriert. Ende 2021 stehen 4000 NATO-Soldaten in der Ukraine, davon 2000 US-Soldaten. Die Aktivitäten der ukrainischen Streitkräfte und Sicherheitsdienste werden von ausländischen Beratern geleitet. Das Kommando über die ukrainischen Streitkräfte, auch über einzelne Einheiten und Untereinheiten, kann direkt vom NATO-Hauptquartier in Brüssel ausgeübt werden. Die NATO nimmt sich von dem, was in dem riesigen, potentiellen Kriegsraum an intakten oder halbintakten Radarstationen, Flugplätzen, Häfen und militärischem Gerät der ukrainischen Streitkräfte herumsteht, was sie brauchen kann. Ein mit Hilfe der US-Amerikaner ausgebautes Netz von Flugplätzen gewährleistet die Verlegung von Militäreinheiten in kürzester Zeit. Der ukrainische Luftraum ist offen für Flüge von strategischen- und Aufklärungsflugzeugen der USA sowie von Drohnen, die zur Überwachung des russischen Territoriums eingesetzt werden. Die ukrainischen 15 Labors zur Entwicklung biologischer Kriegführung werden mittlerweile vom Pentagon finanziert und in eigener Regie betrieben.

   Ein weiterer Schritt in Richtung auf eine militärische Eskalation ist dann die Veröffentlichung einer neuen Militärdoktrin der Ukraine, die als oberstes Ziel die „Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität innerhalb der Staatsgrenzen“ vorsieht. Um dieses Ziel zu erreichen, soll dem Kriegsgegner in einem Abnutzungskampf bis zum letzten Reservisten hinhaltend Widerstand geleistet werden, solange bis die „Unterstützung der internationalen Gemeinschaft“ zur Stelle ist, die für die Ukraine dann den Krieg gewinnt, eine „Einstellung der bewaffneten Aggression zu günstigen Bedingungen für die Ukraine“. Die Strategie besteht also in der Berechnung, in einer aussichtslosen Lage gegenüber den meilenweit überlegenen russischen Kräften durch das rücksichtslose Opfern von allem, was noch eine Waffe halten kann, das westliche Kriegsbündnis zum Eingreifen regelrecht zu zwingen.

   Nächste Schritte sind dann die von der der OSZE beobachtete zunehmende Vorverlegung schwerer Waffen an die Waffenstillstandslinie im Donbass, die Verkündung des Armeechefs Chomtschak, dass in seinen Streitkräften „völlige Gefechtsbereitschaft“ hergestellt worden sei‚ Manöver im Süden des Landes sowie die Mobilisierung von Reservisten der Territorialverteidigung in den südlichen Bezirken entlang der

Schwarzmeerküste. Russland entsendet daraufhin 100 000 Soldaten an seine Grenze zur Ukraine. Die kriegsträchtige Konfrontation im Osten der Ukraine und im Schwarzen Meer wird von der Presse und den Politikern in der Bundesrepublik allein Russland angelastet.

   Die USA wie die EU bremsen die ukrainische Regierung zu diesem Zeitpunkt noch. Was genau am ukrainischen Militär für die Zwecke der Allianz brauchbar ist, wollen sie in von ihnen geplanten und angeführten gemeinsamen Manövern herausfinden, die in allen drei Waffengattungen mehr oder minder ununterbrochen stattfinden. Darunter das Großmanöver „Defender-Europe“ im Schwarzen Meer. Die NATO patrouilliert im Operationsgebiet der russischen Schwarzmeerflotte an 100 Tagen im Jahr, führt Manöver durch, überwacht den Luftraum in der Region und tut überhaupt ihr Bestes, um die Schwachstelle an der Südostflanke der NATO zu reparieren. Immer wieder trainieren einheimische Kräfte zusammen mit NATO-Truppen. NATO-Kampfjets üben neben der Verteidigung des ukrainischen Luftraums die Bekämpfung des russischen Flugabwehrsystems S-300. Wobei die Szenarien verschiedener Übungen eine nukleare Komponente enthalten. Gerade für die professionelle Handhabung des Atomkriegs ist ein besonders hohes Maß an Übung unter Realbedingungen erforderlich. Die zunehmende Zahl von Beinahekollisionen kommt nicht von Ungefähr. Man testet die Reaktionsgeschwindigkeit des Feinds. Großmanöver, die eine massive Invasionsdrohung darstellen, binden und strapazieren die feindlichen Kräfte.

 

   Unter Zeitdruck setzt Putin jetzt nicht nur die bereits erwähnte dritte Maßnahme der USA, die Zerstörung der Wirtschaft Russlands. Er muss davon ausgehen, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO eine ausgemachte Sache ist und nur noch eine Frage der Zeit. Die Perspektive, dass die Ukraine nicht nur de facto, sondern auch de jure der NATO bald einverleibt werden soll, birgt die Gefahr, dass die Ukraine Russland unmittelbar in einen Krieg mit der NATO hineinzuziehen könnte. Sollte sie mit militärischen Operationen auf der Krim oder im Donbass beginnen und Russland würde darauf militärisch antworten, wären auf Grund ihrer Beistandsverpflichtung die Mitgliedstaaten der NATO gezwungen, der Ukraine zu Hilfe zu kommen. Russland befände sich dann in einem Krieg mit der NATO.

   Ein de jure Eintritt der Ukraine stellt aber für Russland noch eine weitere Bedrohung dar. Die Gefahr eines Überraschungsangriffs auf Russland würde um ein Vielfaches steigen. Nicht nur würden Radaraufklärungsanlagen in der Ukraine es der NATO ermöglichen, den russischen Luftraum bis zum Ural streng zu kontrollieren. Auf dem ukrainischen Territorium wären dann luft-, see- und landgestützte hyperschallschnelle Atomraketen stationiert, die so gut wie ohne Vorwarnzeit Luft- und Raketenabwehrstellungen, Kommandozentren, Infrastruktur und natürlich die Kernwaffen im gesamten europäischen Teil Russlands vernichten könnten. Ballistische Raketen aus dem Raum Charkow würden Moskau in sieben bis acht Minuten, Hyperschallraketen in fünf Minuten erreichen. Wenn aber die Vorwarnzeit für einen Enthauptungsschlag gegen Moskau nur noch fünf Minuten beträgt, dann hat Russland das Messer an der Kehle, dann haben die USA Russland endgültig die Fähigkeit zu einem wirksamen Gegenschlag genommen und die Option für den „Enthauptungsschlag“ erlangt, von dem US-Strategen nicht nur träumen. Ihre Planungsdokumente sehen die Möglichkeit eines sogenannten Präventivschlags ausdrücklich vor.

 

 

Vortrag von Helma Fries, gehalten am 2.8.2022 im „Forum künstlerische Bildmedien“ in Berlin-Neukölln, angeregt durch Texte von Kai Ehlers, Bernd Greiner, Lühr Henken, Peter Wahl, Jörg Kronauer u.a., nicht zuletzt der Zeitschrift GegenStandpunkt (hier viele Quellen zum Thema: https://de.gegenstandpunkt.com/dossier/krieg-ukraine sowie https://hegefries.jimdofree.com/texte/texte-anderer/ )

                                                                              Helma Fries
                                                                      Der vierte Reiter

Wie viele apokalyptische Reiter gibt es? Vier, richtig. Heute sind das erstens die Pandemie, zweitens die Klimakatastrophe, drittens die Spaltung der Welt in unvorstellbaren Reichtum und gigantische Macht auf der einen und unermessliches Elend auf der anderen Seite. Wer aber ist der vierte Reiter?

Um ihn zu identifizieren, diesen vierten Reiter, werde ich zunächst über Aufrüstung sprechen, danach über die Produktion von Feindbildern, schließlich darüber, was passiert, wenn beides zusammenkommt.

Im Schatten von Corona bemerken wir es kaum: Der Westen macht sich daran, seine militärischen Kapazitäten quantitativ und qualitativ in schwindelerregendem Maße zu steigern. Dabei ist er schon heute seinem potentiellen Gegner haushoch überlegen. Russland gab im vergangenen Jahr 65 Milliarden Euro fürs Militär aus, die NATO 1000 Milliarden; 700.000 russischen Soldaten stehen 3 Millionen auf Seiten der NATO gegenüber; die NATO besitzt das Doppelte an Kampfpanzern, das 3-fache an taktischen U-Booten, das 4-fache an Kampfflugzeugen, das 8-fache an Kriegsschiffen.

All diese Waffensysteme werden mit Hochdruck weiterentwickelt und aufgestockt, zugleich ganz neue Waffensysteme erprobt, z.B. Raketen, die mit der zehnfachen Geschwindigkeit bisheriger Raketen ihr Ziel erreichen. Horrende Summen, die eigentlich dringend gebraucht werden, um die Pandemie zu besiegen, die Klimakatastrophe aufzuhalten sowie Armut und Hunger zu bekämpfen, werden in den Haushalten der NATO-Länder bereitgestellt, um Kriegsvorbereitungen zu finanzieren. (Link zu Lühr Henkens Essay, der das alles im Einzelnen dokumentiert: https://hegefries.jimdofree.com/texte/texte-anderer/

Gegen wen wird aufgerüstet? Gegen Russland.

Zu Recht, könnte eingewandt werden. Die Wehrhaftigkeit des Westens hat doch einen Grund. Oder hat Putin nicht genügend Aggressivität bewiesen – auf der Krim, im Umgang mit Oppositionellen wie Nawalny, mit kritischen Journalisten? Und ist Mord, staatlich angeordneter Mord, nicht ein abscheuliches Verbrechen, das bestraft werden muss? Ich sage: Ja, das ist es. (Das betrifft übrigens Putin nicht mehr als Joe Biden, der in seiner Zeit als Vizepräsident noch jedem Krieg der USA und jedem Drohnenmord zugestimmt hat.)

Wir sollten allerdings zunächst vor der eigenen Türe kehren. Putins Entwicklung zum Autokraten ist einiges vorausgegangen. Im Jahr 2001 hat er in einer Rede vor dem deutschen Bundestag vom demokratischen Haus Europa gesprochen, das der übrigen Welt die Hand reicht. Sieben Jahre später sind unter Bruch der Gorbatschow gegebenen Versprechungen zehn Länder des ehemaligen Warschauer Paktes in die NATO aufgenommen, gehen 100 Kilometer vor Sankt Petersburg im Zuge von NATO-Manövern deutsche Soldaten in Stellung – wieder einmal. Könnte es nicht sein, dass die Annexion der Krim eine Reaktion auf die Einkreisung Russlands war? Weil man nicht auch noch den Hafen für die Schwarzmeerflotte verlieren wollte? Gorbatschow jedenfalls hat damals gesagt, er hätte genauso wie Putin gehandelt.

20 Militärbasen besitzt Russland im Ausland, 700 besitzen die USA, in 118 Ländern. Im Grunde sagt Putin mit seiner Politik dem Westen nichts anderes als: Bis hierher und nicht weiter! Außenpolitisch wie militärisch agiert er im Großen und Ganzen eher defensiv, auch in der Ostukraine und – trotz der menschenverachtenden Luftangriffe – auch in Syrien, wo er einen der wenigen Stützpunkte außerhalb Russlands nicht verlieren möchte.

Aggressiv scheint mir tatsächlich eher der Westen zu sein, der offenbar mit Hilfe gigantischer Rüstung und der Diskreditierung Putins in die Zeiten Jelzins zurückkehren will und Russland in ein dem ausländischen Kapital geöffnetes Dritt-Welt-Land verwandeln möchte.

Unsere Politiker haben die verhängnisvolle NATO-Osterweiterung längst vergessen. (Zumindest sprechen sie nicht mehr darüber.) Unsere Medien trommeln täglich gegen den Präsidenten Russlands – nicht anders als vor hundert Jahren die SPD-Führung, die die Basis ihrer Partei für den Eintritt in den ersten Weltkrieg mit der Parole gewinnen wollte: „Der despotische Zar will Deutschland überfallen.“

Die in der Eifel lagernden Atombomben sind dazu bestimmt, von Bundeswehr-Tornados auf Russland abgeworfen zu werden. Auch sie sollen modernisiert, d.h. treffgenauer werden und tief verbunkerte russische Kommandozentralen mit noch größerer Sicherheit zerstören können.

Wenn ich lese, dass die USA an den Grenzen Russlands Raketen aufstellen, die imstande sind, russisches Zweitschlagspotential zu neutralisieren, dann erfasst mich eine Angst wie angesichts der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa in den 1980er Jahren, wie während der Kuba-Krise 1962.

Die NATO hält an ihrer Erstschlagstrategie fest, führt zugleich ihre routinemäßigen Luftpatrouillen mit nuklearwaffenfähigen Flugzeugen durch.

Die doomsday clock, die Weltuntergangsuhr, steht auf 100 Sekunden vor Mitternacht.

Der vierte apokalyptische Reiter ist der Atomkrieg.

 

Helma Fries

DIE GROSSE SOLIDARITÄT

 

 

Jeder kennt die Stände in den Fußgängerzonen mit Fotos von in Apparate eingespannten Affen oder anderen gequälten Tieren. Ich bin früher immer schnell an diesen Ständen vorbeigegangen, um nicht von aufgeregten Jugendlichen angesprochen zu werden und Flugblätter mit fettgedruckten Überschriften in die Hand gedrückt zu bekommen. Auch hab ich sofort auf ein anderes Programm umgeschaltet, sobald im Fernseher Videos mit in Massenställen zusammengepferchten Schweinen auftauchten. Wegschauen und abschalten funktioniert bei mir nicht mehr.

 

 Mein Text ist in drei Abschnitte eingeteilt. 1. Was die Massentierhaltung den Menschen antut,
2. was sie den Tieren antut, 3. wie sich Menschen dem Tierleid gegenüber verhalten.

 

1.  Im Zuge der Corona-Pandemie sind die in den hiesigen Schlachthäusern herrschenden desastösen Arbeits- und Lebensbedingen der Niedriglöhner aus dem Osten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden: bei knapp über null Grad im Sekundentakt lebende Wesen töten, mit Messern hantieren ohne krankenversichert zu sein; den gesetzlichen Mindestlohn zwar offiziell erhalten, jedoch nicht für Überstunden; die Fahrt zum Werk, die Horrormiete, selbst noch das Schlachtmesser aus eigener Tasche bezahlen.

 

Aber auch diejenigen Menschen, die in Regionen mit Massentierhaltung nur wohnen, gehören zu den Geschädigten. Denn obwohl die EU 50 Milligramm Nitrat im Wasser als Höchstgrenze festgesetzt hat, wird der Grenzwert in diesen Regionen seit langem weit überschritten, erreicht nicht selten 200 Milligramm. Atemnot, Kopfschmerzen, Missbildungen bei Kindern sind die Folgen sowie  da Nitrat im Organismus zu Nitrit umgewandelt wird, Nitrit aber bei Säuglingen die Sauerstoffversorgung über das Blut hemmt  Todesfälle bei Säuglingen. Alles Folgen der massenhaft ausgebrachten Gülle.

 

Die in den Ställen verabreichten Antibiotika und Reserveantibiotika führen dazu, dass immer mehr Antibiotika versagen, dass ca. 20.000 Menschen in Deutschland jährlich an Infektionen sterben. Dass nur noch eine Handvoll Reserveantibiotika uns von Zuständen wie im Mittelalter trennt.

 

Zu den Leidtragenden der Massentierhaltung in unserem Land gehören weiterhin die Bauern, die der Konkurrenz der Agrarindustrie nicht standhalten konnten, ihre Höfe aufgeben mussten und heute als schlecht bezahlte Angestellte in riesigen Ställen inmitten zusammengepferchter Tiere arbeiten und dabei die giftigen Gase aus deren Exkrementen einatmen müssen.

 

Für das an unser Vieh verfütterte Soja wird im Süden der Regenwald abgeholzt, werden Indigene und Kleinbauern von ihrem Land vertrieben und ins Elend gebracht. Während der größten Hunger-krise in Äthiopien, die zehntausende Menschen das Leben kostete, importierten die europäischen Staaten aus Äthiopien Getreide, um damit Hühner, Schweine und Kühe zu füttern. Seit man in Thailand den Anbau von Maniok für die europäische Schweinemast verdreißigfacht hat, sterben dort jährlich 60.000 Kinder an Hunger. Die Tiere der Reichen essen das Brot der Armen. 

 

 Jeder weiß, dass die Zerstörung des Regenwalds sowie der Methanausstoß der Rinder Hauptfaktoren für die Klimakatastrophe sind. Von allen persönlichen Handlungen hat der Fleischkonsum den größten Einfluss auf das Klima, Verwitterte  Felder, versiegende  Bäche, Dürre, Wirbelstürme, Fluten, Heuschreckenschwärme so groß wie ganze Länder – das alles hat mit dem Braten auf unserem Tisch zu tun.

 

 Abschließen möchte ich diesen Abschnitt mit dem Verweis auf eine Langzeitstudie in China, über 20 Jahre hat sie sich erstreckt, diese sogenannte China-Study  sie ist im Buchhandel auf deutsch zu haben   kam kurzgesagt zu dem Ergebnis, dass Fleisch Krebs erzeugt.

 

2. Ich komme zum zweiten Teil, zu dem, was die Massentierhaltung für die Tiere bedeutet. Der Einfachheit spreche ich dabei nur von den Schweinen. Auf in den Massenställen aufgenommenen Videos ist zu sehen, wie sie im Koben zusammengedrängt auf den scharfen Kanten der Spalten stehen, wie sie in den eigenen Fäkalien liegen; wie trächtige Sauen im Kastenstand versuchen, sich nach ihren Ferkeln umzudrehen, vergeblich, weil sie den Kopf nicht wenden können; wie Schweine ins Eisengitter beißen, immer wieder, mehrere tausend Mal am Tag, weil das äußerst schmerzhafte Abschneiden der Hoden bei ihnen eine Posttraumatische Belastungsstörung hinterlassen hat, weil siewahnsinnig geworden sind.

 

Allein beim Transport sterben in Deutschland jährlich 400.000 Schweine. Viele kommen mit gebrochenen Hüften oder Beinen im Schlachthof an, halb wahnsinnig vor Durst und Angst.

 

 Rund 60 Millionen Schweine werden bei uns jedes Jahr geschlachtet, an Landwirbeltieren überhaupt, also Kühen, Schweinen, Hühnern usw. sind es jährlich 800 Millionen, die meisten von ihnen noch im Kindesalter. Weltweit sind es jährlich 60 Milliarden.

 

Fleisch wächst nicht auf den Bäumen. Um an Fleisch zu kommen, muss man töten. Schon im Transporter riechen die Schweine das Blut, sie ahnen, was als nächstes kommt. Man muss sie mit Elektroschockern in die Schlachtanlage treiben. Im Kohlendioxid der Betäubungsanlage schnappen sie dann 20 Sekunden lang um jeden Atemzug. Viele sind nicht betäubt und hören nicht auf zu treten im brühend heißen Wasser, in das sie danach getaucht werden, damit sich ihre Haare ablösen. Viele zappeln, wenn sie kopfunter vom Förderband herabhängen. Manche schreien noch entsetzlich, bevor ihnen der Stecher die Kehle durchschneidet.

 

Die Verhaltensforschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Wir wissen heute, dass das Gehirn der Schweine genauso arbeitet wie bei uns Menschen. Dass Schweine addieren und subtrahieren, dass sie nach kurzem Training problemlos mit zweistelligen Zahlen operieren können, dass unsere Kinder in der Grundschule ihnen in Mengenlehre nicht gewachsen sind. Wofür Hunde eine Woche brauchen, das lernen sie in zwanzig Minuten. Sie haben Spaß daran, die Welt zu erkunden und Neues zu lernen. Sie träumen wie wir. Sie sind in der Lage, sich zukünftige Ereignisse vorzustellen. Sie erkennen sich selbst, wenn ihnen ein Spiegel vorgehalten wird. Sie haben Selbstbewusstsein. Weil sie von den gleichen Botenstoffen beeinflusst werden wie wir Menschen, empfinden sie Trauer, Erstaunen, Liebe, Verachtung, Ärger, Furcht, Schmerz und Verzweiflung. Bei ihnen sind das dann sofort starke, fast orkanartige Emotionen. Sie beschnüffeln sich gegenseitig, sie kuscheln gern. Sie sind zart und ausdauernd in der Liebe und sensibel genug, um es nicht mit jedem oder jeder zu treiben.

 

Wirklich wichtig ist allerdings nicht die Frage: „Können Schweine denken?“ oder: „Können Schweine reden?“ Wirklich wichtig ist die Frage: „Können sie leiden?“ Und da sagt die Forschung in aller Deutlichkeit: Ja. Sie können leiden. Und wie!

 

3. Ich komme zum dritten Abschnitt, zu den verschiedenen Möglichkeiten von Menschen, sich gegenüber dem Tierleid zu verhalten. Der Besitzer eines Schlachthofkonzerns lässt selbstverständlich das Leiden der Tiere nicht an sich herankommen. Er betrachtet sie als Sachen. Seine ganze Konzentration geht auf die Steigerung einer abstrakten Zahl, auf den Profit.

 

Der Gesetzgeber wiederum hat im Tierschutzgesetz angeordnet »Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Hört sich gut an. Aber in der Realität heißt „aus »vernünftigem Grund“ nichts anderes als „aus ökonomischem Grund“.

 

Für die meisten Konsumenten ist der Verzehr von Fleisch ganz selbstverständlich. Gilt ihnen als Teil der menschlichen Kultur, seit Millionen von Jahren. Aber ich frage: Ist nicht die Geschichte hindurch auch Kindstötung selbstverständlich gewesen, Vergewaltigung, Kannibalismus und Krieg? Und wenn unser Normalo entgegnet, der Mensch sei von Natur aus Fleischesser  sind dann nicht auch Afrikaner „von Natur aus" für die Sklaverei geschaffen, Juden „von Natur aus" schlecht und Frauen „von Natur aus" Eigentum des Mannes? Nur weil etwas immer so war, muss es doch nicht immer so bleiben.

 

„Wir haben es satt“ ist der Leitspruch der großen Demo, die jedes Jahr im Winter durch Berlin zieht. Sie fordert eine andere Landwirtschaft, eine ohne Massentierhaltung. Eine wichtige politische Aktion. Und wer nur noch Bio-Fleisch einkauft, hat zweifellos einen guten Schritt getan. Sein Fleisch stammt nicht aus der Massentierhaltung. Allerdings darf er nicht vergessen: Auch in der Biohaltung werden die Tiere gefangen gehalten, und artgerecht, so heißt es wohl zu Recht, ist nur die Freiheit. Auch am Ende der Biohaltung werden die Tiere getötet, dürfen nicht ihren Lebensabend genießen, dürfen zum Teil nicht einmal erwachsen werden. Und wo immer Tiere getötet werden, erleben sie Angst, Panik und Schmerz.

 

Viele Menschen gehen einen Schritt weiter. Sie haben große Vorbilder. Empedokles, Pythagoras, Sokrates, Leonardo da Vinci, Voltaire, Gandhi, Tolstoi, Einstein, sie alle haben gar kein Fleisch gegessen. «Nun kann ich euch in Frieden betrachten; ich esse euch nicht mehr.» Das hat Kafka gesagt beim Betrachten der Fische in dem Aquarium des Berliner Zoos.  

 

Wenn der Vegetarier jedoch weiter Milch und Käse verzehrt, dann sicher auch deshalb, weil ihm nicht bewusst ist, dass die Kuh jedes Jahr ein Kalb gebären muss, damit sie konstant Milch geben kann. Dass ihr das eben geborene Kind jedes Mal weggenommen wird. Dass sie wochenlang muht nach dem Kind. Und dass die kleinen Jungs zu Döner Kebab kleingehackt werden und die Mädchen in den Gulag der Milchproduktion wandern. Der Veganer hat aus all dem die Konsequenzen gezogen. Und heute gibt es für jeden, der sich nur noch von Pflanzen ernähren will, ein breites und vielfältiges Angebot.

 

Die Juden und Christen, das muss ich leider sagen, haben sich nie sehr für Tiere eingesetzt. Schon im Alten Testament heißt es »Furcht und Schrecken vor den Menschen soll über die Tiere der Erde kommen.. „Weihnachtsgans... Osterlamm...“ für das Hauptfest des Christentums werden Tierkinder geschlachtet. Aber in der Bibel steht doch auch: „Gott hat das Vieh und den Menschen am selben Tag geschaffen. Aus demselben Lehm gebildet. Und er segnete sie alle.“

 

Für Marx und Engels waren die Tierschutzvereine nichts anderes als bourgeoise Kaffeekränzchen. In der DDR hat das Politbüro Wildschweine gejagt, als Nahrung für die Massen den Broiler gefeiert. Wenn ich heute allerdings von meinen linken Freunden höre, der Marxismus ziele auf Verhältnisse, die kein Mitleid brauchen, Vegetarismus und Veganismus seien luxuriöser Lifestyle und Fleisch sei nun mal die billigste und am einfachsten verfügbare Ernährung für Menschen aus der Arbeiterklasse, dann beschleicht mich der Verdacht, hier würde der ganze Marxismus aufgeboten, damit der Genosse nicht auf seine Bratwurst verzichten muss. Und ich frage mich, wie ein Denken, dass sich dermaßen der Befreiung von Leiden verschrieben hat, das fürchterliche Leiden der Tiere ausklammern kann.

 

Rosa Luxemburg jedenfalls hat anders empfunden. Als sie von ihrer Gefängniszelle aus sah, wie ein vor einen Karren gespannter Büffel von Soldaten geprügelt wurde, bis er blutete, schrieb sie «Mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumm und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht.» Als den «wahren Odem» des Sozialismus bezeichnete sie an anderer Stelle «rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit». Eine Welt müsse umgestürzt werden – doch wer dabei «aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen».

 

Der Philosoph Max Horkheimer beschrieb die kapitalistische Gesellschaft auf diese Weise: Sie sei wie ein Wolkenkratzer. Ganz oben, mit einer »schönen Aussicht auf den gestirnten Himmel«, die Geldbesitzer, die Eigentümer, die Reichen. Knapp darunter die mit ihnen verbundenen Mittäter und Mitprofiteure in der Finanzindustrie und der übrigen Wirtschaft sowie die politischen, militärischen und akademischen Herrscher. In den Etagen darunter die Arbeiter. Noch tiefer die Arbeitslosen und Kranken. All das auf dem Fundament der  Ausbeutung, die im globalen Süden herrscht,  also in dem weitaus größten Teil der Erde, wo die Milliarden Kulis der Erde vegetieren und krepieren.  Und noch tiefer, im Keller, da herrscht das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle. Der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere.

 

Helma Fries

 Suharit Bhakdi

 

Vor einiger Zeit traf ich einen Freund, von dem ich wusste, dass er zu den Corona-Leugnern gehört. Ich bat ihn, sein augenblicklich liebstes Sujet in unserem Gespräch nicht zu thematisieren, Freundschaften könnten darüber zerbrechen. Er stimmte mir zu, aber es kam dann doch zu dem, was ich vermeiden wollte: Ich wurde emotional, wurde laut, schrie herum. Mein Freund hingegen blieb ruhig. Und sagte am Ende: Schade, dass ein Gespräch über diese Sache so schwierig ist. Da musste ich mir eingestehen: Während ich von der Materie nur wenig weiß, liefern Wissenschaftler und Mediziner, also offenbar Experten den Corona-Leugnern, Protestlern und Maskenverweigerern ständig neue Argumente, verleihen ihren Parolen und Theorien Konsistenz und ihrem Verhalten Legitimation und gutes Gewissen.

 

     Suharit Bhakdi, ehemaliger Professor für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie an der Universität Mainz und seit Jahren im Ruhestand, ist der Papst dieser Experten.

   

    Sein Hauptpunkt: Covid 19 ist nicht gefährlicher als der Grippevirus. Wieso? Nun, man muss sich nur die Zahl der Corona-Infizierten ansehen und dann die Zahl der Corona-Toten. Das Verhältnis der beiden Zahlen ergibt die Infektionssterblichkeitsrate (IFR). Und die liegt in Deutschland bei Covid 19 bei 0,05 und 0,1 %, nicht höher als bei einem normalen Grippevirus. Im schlimmsten Fall sterben bei uns an dem Virus 30 Personen pro Tag. Sagt Bhakdi.

   

    Ich selber habe keine medizinische Ausbildung, bin keine Virologin oder Epidemiologin, und die folgenden Ausführungen erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch; es fehlen daher Anführungsstriche bei Zitaten, es fehlen Quellenangaben und Fußnoten. Indem ich mich gründlicher mit Bhakdi beschäftige, habe ich keine andere Absicht, als auf die Parolen der Corona-Leugner in Zukunft nicht bloß emotional oder mit Verweis auf Autoritäten reagieren, sondern ihnen mit Argumenten standhalten zu können.  

    

    Bhakdi fragt: Woher wissen wir, wie hoch aber die Gesamtzahl der Infizierten in Deutschland ist? Von der Zahl der Corona-Toten wissen wir durch die Gesundheitsbehörden. Wie viele Infizierte es gibt, erfahren wir nur durch stichprobenartige Untersuchungen der Allgemeinbevölkerung auf Antikörper. Die zeigen nämlich an, ob jemand infiziert worden ist. Er verweist dabei auf den Bonner Virologen Streeck. Um die Ausbreitung des Virus in der Region Heinsberg-Gangelt zu ermitteln, hat dieser systematisch 900 Probanden in 400 Haushalten getestet. Und am Ende festgestellt: Von der Bevölkerung sind 15% infiziert - 5 Mal mehr als die offiziell als infiziert Gemeldeten. Ins Verhältnis zu den in der Region im Zusammenhang mit Corona Verstorbenen gesetzt, kam Streeck auf eine wesentlich kleinere Infektionssterblichkeitsrate als das Robert-Koch-Institutut, nämlich auf 0,37%. Bhakdi folgert aus dieser regionalen Studie: Die Sterblichkeitsrate von SARS-CoV-2 liegt im gesamten Bundesgebiet im Bereich der saisonalen Grippe.
   

    Als weiteren Kronzeugen zitierte Bhakdi John Joannides, der  in einer Meta-Analyse internationaler Studien auf eine Infektionssterblichkeitsrate im Mittel von 0,27% kommt.

    

   Einen weiteren Beleg für diese Behauptung findet Bhakdi in den Obduktionen des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin. Alle Verstorbenen, in denen sich das Virus befand, hatten Vorerkrankungen; es kann sein, dass sie nicht an, sondern nur mit dem Virus gestorben sind. Für das RKI gelten alle „mit“ Corona-Viren als „an“ Corona Verstorbene. So kommt das Institut natürlich auf eine viel größere Zahl an Corona-Toten.

   

    Es gibt auch keine Übersterblichkeit im Zusammenhang mit Covid 19. Und da die Verbreitung des Virus nicht zu verhindern ist, sollte man diese einfach zulassen. Die Herdenimmunität ist eh bald erreicht. Bereits im Mai sieht Bhakdi  die Epidemie in unserem Land an ihr Ende gekommen.

  

    Aber was ist mit diesen beängstigenden Bildern überfüllter Krankenhäuser und unzähliger Toten in Italien? Nun, das hat mit der Luftverschmutzung in Norditalien zu tun, sagt Bhakdi. Und mit den schlecht ausgestatteten Krankenhäusern in dem Land.

  

    Und was ist mit New York? Nun, am massenhaften Ausbruch dort ist ein bestimmtes Gen bei Latinos schuld.

 

     Alle Maßnahmen der Regierung sind im Grunde sinnlos. Es wird keine zweite Welle geben, beruhigt Bhakdi Ende Juni und auch noch im Oktober 2020.

 

     Die Maßnahmen der Bundesregierung sind nicht nur sinnlos, sie sind tödlicher als das Virus selbst, stellt er fest. Zu Hause eingesperrt zu sein, führt auf Grund des Bewegungsmangels bei alten Menschen zu Thrombosen und Lungenembolie, in anderen Fällen zu einem Anstieg der häuslichen Gewalt und einer erhöhten Selbstmordrate. Masken zu tragen ist nicht nur unnötig, sondern wegen der Keimbildung hoch gefährlich. Für Corona-Patienten freigehaltene Krankenhausbetten und aufgeschobene Operationen lassen Patienten mit anderen schweren Erkrankungen sterben. Kurz gesagt: Die Politik der Bundesregierung ist eine Katastrophe.

 

   Wie man es besser machen kann, sieht man in Schweden.

 

   Soweit Suharit Bhakdi.

 

    Es gibt einen breiten und weltweiten Konsens der Virologen und Epidemiologen darüber, dass Covid 19 erheblich gefährlicher ist als die normale Grippe. Wie kommen sie darauf? Ich finde bei ihnen folgende Argumente:

 

    Die Heinsberg-Studie nennt eine Infektionssterblichkeitsrate von 0,37 Prozent. Das ist immer noch weit von der Grippe entfernt, deren IFR wie gesagt niedriger ist als 0,1% ist. Von Heinsberg mit seinem überaus starken Ausbruch (15% der Bevölkerung hatten sich angesteckt) lässt sich darüber hinaus nicht ohne weiteres auf die Infektionsrate im gesamten Bundesgebiet schließen.
  
    Der von Bhakdi als Kronzeuge zitierte John Joannides, der  in einer Meta-Analyse auf eine Infektionssterblichkeitsrate im Mittel voni 0,27% kommt, unterscheidet nicht zwischen Ländern mit überwiegend junger und solchen mit überwiegend alter Bevölkerung. Und eine große Anzahl von Studien zeigen eine deutlich höhere Sterblichkeit als von Joannides festgestellte. Nur als Beispiel: Im Juni 2020 wurde in München eine breite Untersuchung durchgeführt. Es wurde festgestellt: 2% der Münchner sind infiziert. Die Infektionssterblichkeit lag bei 0,76%. 76 von 10.000 Infizierten Münchnern sind an Corona gestorben. Eine Meta-Analyse von Ende August kommt für Frankreich auf 0,79% Infektionssterblichkeitsrate. Frankreich ist aber von der Bevölkerungsdemografie vergleichbar mit Deutschland. Im September 2020 ging die Forschung von einer Covid 19-Infektionssterblichkeitsrate von 0,5 bis 1,0% aus, also von 5 bis 10 Toten auf 1000 Infizierte - im Gegensatz zur saisonalen Grippe, bei der die Rate unter 0,1% steht, ein Toter auf 1000 Infizierte. Nur bei den bis 44 Jahre alten ist das Sterberisiko an Covid 19 so hoch wie bei der Grippe. Bei den über 75-jährigen ist es bereits 150 Mal so groß: 7,6%. Eine sehr genaue, vom Emperial College in London Ende Oktober durchgeführte Meta-Analyse kommt auf eine Infektionssterblichkeitsrate zwischen 0,23 für eine junge Bevölkerung und 1,15 für eine ältere Bevölkerung - deutlich höher als bei der Grippe. Insgesamt wird festgestellt: Der Covid-19 Virus ist 5 bis 10 Mal so tödlich ist wie der Grippevirus.

 

   Im Hamburger Institut für Rechtsmedizin gab es bis zum 7. Mai 192 Sterbefälle mit bestätigtem Covid 19 Virus. In 187 Fällen wurde das Virus als todesursächlich festgestellt. Der Krankheitsverlauf ist sehr typisch, die Ärzte können ihn von anderen sehr gut unterscheiden. Und die Frage ist nicht, ob ein Patient auch ohne Vorerkrankung an Covid 19 gestorben war, sondern ob er seine Vorerkrankungen ohne Covid 19 überlebt hätte. An Corona stirbt man nicht. Das Virus schwächt das Immunsystem, bis man an etwas anderem stirbt. Studien zeigen, dass das Virus im Schnitt 9 Lebensjahre kostet. Mit Diabetes, Asthma und Bluthochdruck allein kann man lange leben. Wenn es aber heißt: Solange wir nicht wirklich ganz genau wissen, ob Corona der Auslöser für den Tod war, können wir auch nicht sagen, wie viele Leute an Corona gestorben sind, müssen wir sagen: In der Wissenschaft gibt es nie 100% Sicherheit. Diesen Umstand macht sich auch die Ölindustrie in Bezug aufs Klima und die Tabakindustrie in Bezug auf die Tödlichkeit des Rauchens bei ihrer Lobbytätigkeit zunutze.

 

   Relevant für die Berechnung der Übersterblichkeit ist der Zeitraum, in dem es Todesfälle durch Covid-19 gab. In Deutschland gab es die ersten beiden bestätigten Todesfälle durch das Coronavirus am 9. März. Im April lagen die Gesamt-Sterbefallzahlen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt deutlich über dem Durchschnitt der Vorjahre und korrelierten exakt mit den Zahlen bestätigter COVID-19-Todesfälle. In anderen Ländern, in denen Corona richtig zugeschlagen hat, sehen wir über den gesamten bisherigen Zeitraum eine hohe Übersterblichkeit. In Deutschland gibt es sie nicht. Warum nicht? Wegen der früh getroffenen Maßnahmen.

 

     Das Haus brennt. Die Feuerwehr kommt, löscht den Brand und das Haus steht noch. Bhakdi würde sagen. Da sieht man: So schlimm kann das Feuer nicht gewesen sein. Der Feuerwehreinsatz war überflüssig. Das berühmte Präventionsparadox.

 

    Zwar ist in Italien die Luftverschmutzung im Großraum Mailand erheblich. Aber nicht in Regionen wie Bergamo, wo übermäßig viele Corona-Patienten starben. Tatsächlich weisen Studien nach, dass Feinstaub genauso wie Rauchen eine Ursache dafür sein kann, dass man an Corona schwer erkrankt. Und zweifellos sterben weltweit Corona-Infiziert auch, weil Krankenhäuser überlastet und schlecht ausgestattet sind.

 

    Einen Gendefekt bei Latinos sieht Bhakdi als Ursache für den starken Ausbruch von Corona in New York. Zu dieser These habe ich keine ernsthafte Besprechung in der Wissenschaft gefunden.

 

    Die bisherige Entwicklung widerspricht eklatant Bhakdis Behauptung, die Pandemie sei in Deutschland zu Ende, und auch seine Prophezeiung, es werde keine weitere Welle geben – noch am 3. Oktober hat er behauptet, die Epidemie sei definitiv vorbei – ist von der Wirklichkeit längst überholt worden. Über 20 000 Tote hat die Seuche in unserem Land bisher gefordert, noch gestern (am 9.12.2020) gab es 440 Tote. Wir befinden uns mitten in der zweiten Welle. In manchen Ländern erleiden die Menschen bereits die dritte. Die letzte von der WHO zuletzt geschätzte Zahl weltweit Infizierter beträgt 700 Millionen. Nach der Zählung der John Hopkins Universität sind bis heute insgesamt 69.027.093 Menschen am Corona-Virus erkrankt und 1.572.162 gestorben. Es ist die tödlichste Pandemie seit der „spanischen“ Grippe 1918/19. Diese hatte nach jüngsten Forschungen bis 500 Millionen infiziert und 50 bis 100 Millionen Tote gefordert.

 

    Zu Schweden. Stand 27. Oktober gab es in dem Land laut WHO pro eine Million Einwohner 587 Tote, fünf Mal soviel wie in Deutschland (120). Die Übersterblichkeit in schwedischen Altersheimen war doppelt so hoch wie im Mittel der letzten fünf Jahre. Zwei Drittel aller ihrer Toten sind über 80 – auf der Intensivstation lagen allerdings nur fünf Prozent. Es gab also keine Überlastung der Krankenhäuser, weil man die Alten einfach im Altersheim hat sterben lassen. Im Grunde genommen bestand der schwedische Sonderweg darin, dem jüngeren Teil der Bevölkerung mehr Freiheiten zu geben, Kitas und Schulen offen zu lassen – und dafür alte Menschen in den Altersheimen sterben zu lassen, um nicht die Krankenhäuser zu überlasten.

 

     Die überwiegende Mehrheit der Todesopfer wird am Ende jedoch nicht Teil der offiziellen Corona-Opferzahlen sein. Weil die Pandemie vor allem im globalen Süden zu riesiger Arbeitslosigkeit führt, fallen unzählige Menschen in extreme Armut zurück. Die Zahl der hungernden Menschen könnte im Jahr 2020 um 200 Millionen auf über eine Milliarde gestiegen sein.

 

    Bis hierher die Argumente der Wissenschaftler gegen Bhakdis Behauptungen. Darüber hinaus stellen sie zur Gefährlichkeit des Covid19-Virus fest:

 

    Es fehlt bisher (November 2020) ein Impfstoff. Und anders als bei der Grippe gibt es keine Grundimmunität in der Bevölkerung – ein Umstand, der es dem Erreger leicht macht, sich zu verbreiten.

 

   Während Grippesymptome meist schlagartig auftreten und sich die Betroffenen innerhalb weniger Stunden sehr krank fühlen und hohes Fieber entwickeln, dauert die Inkubationszeit bei Corona, also die Zeit zwischen Infektion und Ausbrechen der Krankheit, mehrere Tage. In der Folge können Infizierte den Erreger per Tröpfcheninfektion oder durch Aerosole bereits übertragen, ohne zu wissen, dass sie schon erkrankt sind. Ein beträchtlicher Anteil von Ansteckungen geschieht durch Personen, die erst ein bis zwei Tage infektiös sind, aber es nicht wissen. Und es gibt Ansteckungen von Personen, die infektiös sind, aber überhaupt nicht erkranken.

 

    Bei Corona gibt es einen hohen Anteil schwerer Krankheitsverläufe. Zwischen 51 und 81% der Infizierten zeigen Symptome, erkranken also. 20% dieser Erkrankten haben einen schweren Verlauf. Es sind also 10 bis 16 % der Infizierten, die schwer erkranken.

    Überlebende tragen oft schwere und lang anhaltende Folgeschäden davon. Selbst  relativ milde Verläufe können schwerwiegende Folgen haben – auch bei jungen Menschen. Vor allem das Nervensystem wird häufig geschädigt.

 

    Nun wird geschätzt, dass bei der schweren Grippewelle 2018/19 in Deutschland 25.000 Menschen gestorben sind. In der Corona-Pandemie wurden in Deutschland bislang, bis zum November 2020, knapp 15.000 Tote gezählt. Bhakdi fragt: Wieso soll Covid-19 dann viel gefährlicher sein als die Grippe? Nun, nach allem was wir wissen, liegt die gegenüber anderen Länderen erheblich geringere Zahl an Infektionen in Deutschland an den von den Bundesländern beschlossenen Maßnahmen. Sie haben verhindert, dass sich das Coronavirus ungehindert verbreiten konnte. Die von der Regierung angeordneten Maßnahmen gegen die Pandemie waren notwendig und richtig. (Ich spreche hier von denen, die im Frühjahr getroffen wurden. Im Herbst waren sie offenbar sei es auf Grund des Einspruchs von Ministerpräsidenten, sei es auf Grund des Drucks von AfD und der Straße nicht konsequent genug.)

 

    Der von Prof. Drosten entwickelte PCR-Test ist von diversen Instituten geprüft worden und keineswegs, wie Bhakdi behauptet, fehlerhaft. Fehler tauchen nur auf, wenn Abstriche falsch durchgeführt werden. Ab Mitte Februar war Deutschland durch ihn in der Lage, routinemäßig auf Sars-CoV-2 zu testen. Das hat es in kaum einem anderen Land gegeben. Dadurch war es früh möglich, Corona Ausbrüche zurückzuverfolgen. Viele internationale Studien bestätigen mittlerweile die Wirksamkeit von Masken als Barriere für erregerhaltige Tröpfchen und Aerosole, auch wenn sie keinen 100-prozentigen Schutz bieten. Zahlreiches Testen, das Verbot von Großveranstaltungen, die Schließung von Schulen und Kitas, Theatern und Geschäften, das Abstandsgebot, die Anordnung Masken zu tragen all das hat dazu beigetragen, die Pandemie in Deutschland einzudämmen und hat uns viele Tote erspart. Ohne diese ganzen Maßnahmen hätten 2/3 der Bevölkerung sich infizieren, Unzählige hätten sterben können. Präsident Trump teilt die Auffassungen unserer Corona-Leugner und unterließ deshalb weitgehend solche notwendigen Maßnahmen. In der Folge infizierten sich bis heute, (10.12.2020) 15.392.979 Millionen US-Bürger, und mehr als 289.450 Infizierte starben.

 

    Eine unkontrollierte Übertragung des Virus zuzulassen und auf Herdenimmunität zu hoffen, hätte die Gefahr einer erheblichen Mortalität in der gesamten Bevölkerung mit sich gebracht. Es hätte außerdem die Fähigkeit der Gesundheitssysteme zur Bereitstellung von Akut- und Routineversorgung überfordert. Der Zweck der Einschränkungen besteht ja darin, Infektionen auf ein niedriges Niveau zu bringen, um so auf Ausbrücke durch Tests, Rückverfolgung, Isolierung und Intensivstationen schnell reagieren zu können der beste Weg, unsere Gesellschaft zu schützen, bis sichere und wirksame Impfstoffe für alle verfügbar sind. Meiner Ansicht nach dürfte angesichts der im Dezember erneut steil ansteigenden Zahl der an Corona verstorbenen Menschen ein erneuter harter Lockdown unumgänglich sein.

 

    Zweifellos bringen die Maßnahmen gegen das Virus stark schädliche Nebenwirkungen mit sich. Da ist Bhakdi Recht zu geben. Wir wissen wenig über die Kollateralschäden der Eindämmungsmaßnahmen, Sie sind wahrscheinlich groß und viele Menschen dürften an Covid 19 gestorben sein, ohne infiziert zu sein. Die Behandlungen anderer schwerer Erkrankungen, das Aufschieben von Operationen, das hat sicher zu Todesfällen geführt. Allerdings gibt es eine Studie der AOK über den Zeitraum 16. März bis 5.April, nach der lebensbedrohliche Erkrankungen wie sonst auch behandelt und notwendige Operationen durchgeführt wurden. Und ja, in den Masken können sich tatsächlich Keime ansammeln. Man sollte sie auswechseln, sobald sie feucht geworden sind. Es stimmt auch, dass Stress anfälliger für Infekte macht. Aber Neuseeland hatte einen der härtesten Lockdowns der Welt. Und trotzdem gab es kaum zusätzliche Tote. Im Gegenteil. Die Pandemie ging fast ganz zurück. Zu behaupten, der durch den Lockdown erzeugte Stress bringe erst die Corona-Krankheit hervor ist so absurd wie das Argument, Raucher bekämen Lungenkrebs, weil sie durch die Schockbilder auf den Zigarettenschachteln gestresst wurden.

 

    Bhakdis Positionen zu Covid-19 werden von fast allen Experten und Institutionen als irreführend bis falsch zurückgewiesen. Dass ein Wissenschaftler dem Konsens der übrigen Wissenschaftlicher widerspricht und eine Außenseitermeinung vertritt, muss nicht gegen seine Thesen sprechen. Allerdings müsste er dazu selbst Experte auf dem betreffenden Feld sein. Es gibt in Bhakdis wissenschaftlicher Publikationsliste keinen Hinweis darauf, dass er sich jemals mit Coronaviren oder anderen Atemwegsviren oder Viren überhaupt befasst hat. Über die Medien jedoch übt er, zusammen mit anderen sogenannten Experten, einen gefährlichen Einfluss aus. Viele von denen, die sich weigern, eine Maske zu tragen und auf Demonstrationen keinen Abstand halten, dürften sich ihr gutes Gewissen von Bhakdi verschafft haben.

 

     Zuletzt eine persönliche Bemerkung: Wenn ich hier viel über Tote gesprochen habe, dann fast immer im Zusammenhang mit Zahlen. Ich möchte aber daran erinnern, wie schmerzlich der Verlust jedes einzelnen Menschen ist. Jede Zahl in der Statistik steht für ein einzigartiges, beendetes Leben, für ein Leben mit persönlichen Wunder- und Schreckensjahren, mit unwiederbringlichen Erfahrungen von Liebe und Leid, von Schmerz und Glück. Jedes Leben zählt.

Kurze Erzählungen, Verse

0,1

Mutter im Supermarkt

 

Wie auf der Überwachungskamera zu sehen ist, hat meine Mutter um 11 Uhr 13 die in der Löbsackstraße liegende Filiale von EDEKA betreten, sich einen Einkaufswagen herausgezogen, ihn zur Obsttheke geschoben, dort ein Körbchen mit Erdbeeren herausgegriffen, es nach kurzer Begutachtung wieder an seinen Platz gestellt, darauf den Einkaufswagen Richtung Tomaten bewegt, wo sich derselbe Vorgang wiederholte, diesmal mit dem von umstehenden Kunden bezeugten Kommentar: „Gespritzter, durch Sklavenarbeit entstandener Scheißdreck.“ Eine weitere Kamera sah sie dann den Milchstand mit den Worten passieren „Die Leute sollten mal das Muhen der Mütter hören, wenn ihnen das Kälbchen weggenommen wird,“ wobei sie ein Stück abgepackten Käse aus dem Glasschrank nahm und, wie versehentlich, auf den Boden fallen ließ. Den Kunden, der das Stück aufhob und ihr überreichen wollte, wies sie mit den Worten „Tierleid ess´ ich nicht“ schroff zurück, setzte jedoch an, ihm vom Leben der Kühe in den Massenställen zu erzählen, worauf der Hilfsbereite rasch in der Getränkeabteilung verschwand. „Das Muster wird erkennbar,“ resümierte der Polizist, der mir all dies berichtete. „Das hält sie von jetzt an durch.“ Bei der Margarine stehend begann sie, über Palmöl, abgeholzte Urwälder und Orang Utans zu dozieren. Worauf die neben ihr stehende Frau so tat, als sei sie schwerhörig oder als gäb´s nichts wichtigeres, als den preiswertesten, kurz vor´m Verfall stehenden Aufstrich auszuspähen.

 

   Als sich meine Mutter am Schokoladenstand deutlich zur Überwachungskamera wandte und hinaufrief „Bei euch kostet die Tafel Vollmilchschokolade einen Euro. Die Kakaobäuerinnen in Ghana kriegen davon nur fünf Cent,“ wurde ein Herr hinter ihr richtig böse. Auf sein „Halten Sie den Mund!“ riss sie eine Packung Spaghetti auf, verstreute die Nudeln über den Gang und goss aus einer Ketschupflasche rote Tomatensoße aus, mit wiederholten Schwüngen wie nur Jackson Pollok seine Farben über die am Boden liegende Leinwand. Hatten die übrigen Kunden zunächst betreten weggesehen, waren sie später neugierig stehengeblieben, so versammelten sie sich jetzt dichtgedrängt, jedoch in sicherem Abstand um die offenbar gestörte Frau, wobei die einen ihre Smartphones zückten, die anderen lachten, wieder andere laut nach dem Filialleiter riefen. Aber lang bevor der auftauchen konnte, war meine Mutter schon auf der gegenüberliegenden Seite des Supermarktes, zog Mantel und Rock hoch, den Schlüpfer runter, ging in die Hocke und mit den Worten „Ich bin das Schwein.“ kackte sie zum Entsetzen der Umstehenden direkt vor die Fleischtheke. „Ach ja,“ sagte der Polizist: „Davor, oder, warten Sie, vielleicht war es danach, da hatte sie am Obststand vor allen Leuten mit dem Ausruf „Fernstenliebe!“ ihre Bluse aufgeknöpft. Während eine gütige Kundin sich schützend vor sie stellte, gab es, das muss ich leider sagen,“ fügte der Polizist hinzu, „gab es Applaus von Seiten der umstehenden Männer samt Bemerkungen wie: „Die Grapefruits sehen aber runder aus.““ Meine Mutter jedoch schrie: „Da gehörst du hin. Das ist dein Platz“ und packte, die kleine zart gebaute Frau, packte den auf sie gütlich einredenden, ziemlich stämmigen 550-Euro-Minijobbenden Einräumer und presste ihn in die unterste Lade des Tütensuppenregals mit dem großen roten „JA“. Endlich tauchte die Filialleiterin auf. Mutter aber entzog sich deren Zugriff. „Denn nun“, fuhr der Polizist fort, „nun tat sie etwas, was mir so noch nie vorgekommen, jedoch von mehreren Kundinnen unabhängig voneinander bezeugt worden ist.“ Nach einem kleinen Anlauf flog sie nämlich mit einem für ihr Alter erstaunlichen Hechtsprung hinein in die Röhre des in die Wand eingelassenen Flaschenrücknahmeautomats, wo das Laufband nur kurz zögerte, sie sodann entschlossen weitertransportierte und mit in sein dunkles Jenseits nahm. Aus dem sie jedoch, oh Wunder! drei Augenblicke später wiederkam, als Papierstreifenqittungsbon durch den Schlitz, als Bestätigungsausdruck für vorbildlichen Lebenswandel des armen Recyclingbürgers, welchen Streifen sie sich selber abriss. Mit dem Ruf: Jetzt mach ich richtig Kasse! gings im Galopp an der langen Schlange Bezahlwilliger vorbei, wieder mit einem Hechtsprung auf das nächste Laufband, auf das in Richtung Kasse. Und während sie dieser immer näher kam, rief sie wiederholt: „Primrose Mulenga –  ich räche dich!“ Dass das Band von der auf einen solchen Fall nicht vorbereiteten Kassiererin zum Halten gebracht wurde, fasste Mutter offenbar als Angebot für eine längere Rede auf. Sich in die Pose einer Volkstribunin aufrichtend wandte sie sich an die ihr bis zuletzt gefolgte Kundenmeute. „In Deutschland teilen sich vier Supermarktketten 85 Prozent des Lebensmitteleinzelhandels. Was eine Plantagenarbeiterin in Costa Rica in einem Jahr verdient, streicht Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz in sechs Sekunden ein.“ Geistesgegenwärtig stellte die Kassiererin das Laufband wieder an, und meine Mutter fiel um. Auf dem Band sitzend kam sie bei der Kasse an, presste ihr Gesäß auf die Glasscheibe für die Strichcodes und schrie: „Was kostet mein Hintern? Das Paradies, das Paradies!“

 

   Wird sie nach all dem abgeführt? I wo! Mit einem gewissen Bedauern, zugleich noch immer ganz perplex schloss der Polizist seinen Bericht: „Die Filialleiterin lies ausrufen, stellen Sie sich vor! Sie ließ im Supermarkt ausrufen, die Filiale hätte Interesse an den vom Amoklauf der alten Frau geschossenen Fotos; die zehn besten würde EDEKA prämieren und gegen Abtretung aller Rechte den Fotografen Einkaufbons in Höhe von 50 Euro zahlen. Jetzt frag ich Sie: Wieso das denn?“ Der Polizist war nicht mehr der jüngste. Ich klärte ihn auf. „Die Fotos werden vom Supermarkt über die social media verbreitet, um junge Leute als Konsumenten zu gewinnen. EDEKA steht dann für Event!. Einkauf mit Spaß.“ Der Polizist: „Ist echt eine andere Generation.“ Tja, wo er recht hat, hat er recht.

 

 

 

0,2

 

Löbsack und der Schwarze Mann

 

Eines Tages meldete sich ein Afrikaner an der Tür von Löbsacks Wohnung mit den Worten, er sei der bestellte Sklave. Wie, was? Ich habe Sie bestellt? Löbsack war verwirrt. Über Amazon? Über eine Kleinanzeige? In der Vergangenheit hatte er immer wieder mal eine Anzeige auf der Suche nach einer Partnerin aufgegeben, aber nie nach einem Mann oder gar im Rahmen von BDSM einen Sklaven gesucht. Und überhaupt: Ist das erlaubt, einen Sklaven zu halten? Und so fragt er den Mann in Englisch: „Is slavery even legal?“ „Oh yes“ ist die Antwort. Gut, manche Leute sprechen von Lohnsklaverei, geht es durch Löbsacks Kopf. Aber ich, ich nehme das Wort nicht einmal in den Mund. Der Kerl vor der Tür ist kräftig, offenbar kerngesund, sieht auch nicht dumm aus. So jemand ist zweifellos nützlich, könnte schon zu gebrauchen sein, fürs Putzen im Haushalt, für Besorgungen. Statt das verhasste tägliche Kochen: Lesen, Musik hören das wär schon was. Und bei meiner schmalen Rente eine Pflegekraft einzustellen werde ich mir nie leisten können. Im Grunde, ja im Grunde fehlt mir so wer wie der da. Und so fragt ihn Löbsack, immer noch mehr im Spaß: Können Sie Schweinsgulasch mit Klössen zubereiten? Meine Lieblingsspeise? Und der Schwarze: Yes, I can. Löbsack darauf: Aber Einstellung als Sklave geht doch sicher nur unter bestimmten behördlichen Auflagen, nicht wahr? Der Schwarze darauf: No problem. Stille. Vielleicht eine halbe Minute Stille. Darauf Löbsack: Na gut. Denn mal los! Und so sehen wir in den folgenden Tagen nicht mehr ihn selbst, sondern seinen Sklaven Einkaufstüten in den vierten Stock schleppen, putzen, Geschirr waschen, ja sogar dem schon bejahrten Hausherrn bei dessen Spaziergängen im nahegelegenen Park als Rollator dienen sowie als Lehnsessel abends vorm Krimi Gucken. Erstaunlich, zu welchen Verrenkungen so ein Sklavenkörper fähig ist! Und Löbsack gewöhnt sich an die sehr angenehme Rundumversorgung, die ihn obendrein nichts kostet. Bis eines Tages, vielmehr eines Nachts… Ich muss an dieser Stelle hinzufügen, dass dem Schwarze Mann zum Schlafen standesgemäß der Raum unter Löbsacks Bett zugewiesen wurde… bis eines Nachts also Löbsack von so grauenhaften Flüchen unter seinem Bett geweckt wurde, von Flüchen in einer ihm unbekannten Sprache, aber unverkennbar Flüche, dass ihm Angst und Bange wurde. In den darauf folgenden Nächten dasselbe. Löbsack, so kam es ihm vor, lebte oder vielmehr schlief auf einem Vulkan. Und in der dritten Nacht verfestigte sich der Gedanke bei ihm, dass die Flüche niemand anderem als ihm selbst galten, dass der schwarze Mann sich bei ihm eingeschlichen habe, um sich an ihm zu rächen, um ihn zu töten. Aber für welches Vergehen? Es war die Hautfarbe seines Sklaven, die ihn auf die wahrscheinlich richtige Fährte brachte. Durch die eine oder andere Dokumentation in arte war ihm nicht entgangen, dass der Lebensstil des Nordens auf Kosten des globalen Südens ging, dass so gut wie alle Dinge, mit denen er tagtäglich hantierte, aus dem Süden kamen, unter entsetzlichen Arbeitsbedingungen entstanden waren, sie selbst oder zumindest ihre Bestandteile, darunter etliche Metalle aus Afrika, wobei etwa das in jedem Handy verbaute Coltan im Ost-Kongo einen seit Jahren tobenden Krieg mit über fünf Millionen Toten befeuerte. Übers Fernsehen hatte er obendrein auch erfahren, dass die Serengeti nur deshalb heute ein Tierparadies war, weil die Deutschen Anfang des 20. Jahrhunderts im Gebiet des heutigen Tansania als Reaktion auf einen Aufstand die Taktik der verbrannten Erde verfolgten, dass der Kolonialismus der Deutschen in Ostafrika rund eine Million Afrikaner das Leben gekostet hatte. Dies alles hatte Löbsack längst vergessen, kam ihm aber jetzt wieder zu Bewusstsein. Völlig logisch erschien ihm also, dass der Schwarze Mann sich bei ihm eingeschlichen hatte, um ihn als Deutschen, als Vergeltung für die Verbrechen seines Landes an Afrika in Vergangenheit und Gegenwart, umzubringen, vielleicht aber auch als Vergeltung für den Tod eines nahen Verwandten im Bergbau. Aber warum gerade ihn? Nun irgendwo muss der Mann anfangen. Kalter Schweiß auf Löbsacks Haut bei dieser Entdeckung. Und aus den Tiefen der Vergangenheit ging ihm eine alte Lithografie nicht mehr aus dem Kopf: Ein weißer Missionar im Kochtopf, um ihn eine Horde von tanzenden Schwarzen. Löbsack jedoch will überleben. Also beginnt er darüber nachzudenken, wie er den Schwarzen aus seiner Nähe, aus der Wohnung entfernen, diskret entfernen kann. Wenn der Mann sich rächen will, wird es nicht helfen, ihn einfach vor die Tür zu setzen. In der nächsten Nacht ist er wieder da, hat er sich auf irgendeine Weise erneut Zugang verschafft, das ist klar. Ihn anzuzeigen wird ebenfalls nichts bringen, ist er doch weder in die Wohnung eingebrochen noch hat er etwas gestohlen. Es bleibt für Löbsack nur ein Ausweg. Er muss ihn – zugleich erschrickt er bei dem Gedanken – er muss ihn töten. Und die Leiche unauffällig beseitigen. Löbsack ist ein frommer Staatsbürger. Obwohl ihm als wehrhaftem Demokraten das Töten ein nicht völlig fremder Gedanke ist, sucht er einen legalen Weg. Sein politisches Engagement beschränkt sich bisher auf eine Mitgliedschaft in der FDP. Und als eine Art Karteileiche hat er nur wenig persönliche Beziehungen innerhalb der Partei. Aber in der Zeitung hat er gelesen, dass die Führung der Partei das EU-Lieferkettengesetz erfolgreich zu Fall gebracht hat. Allen in der Partei – und auch Löbsack – ist bewusst, dass damit der Tod von Tausenden Arbeitern und Arbeiterinnen im Süden besiegelt war. Löbsack muss also davon ausgehen, dass die Partei die Tötung eines einzigen schwarzen Arbeiters für eine Bagatelle halten würde. Und tatsächlich erlangte er von einem ihm befreundeten und in der Stadtverwaltung angestellten FDP-Mitglied eine mit behördlichem Stempel versehene Bescheinigung über die die Erlaubnis der Liquidierung eines in seine Wohnung als angeblicher Sklave eingedrungenen Schwarzen. Das Weitere ist rasch erzählt. Er verschob das Bett ein wenig. Mit diesem Schein in der einen und einem scharfen Küchenmesser in der anderen Hand fiel es Löbsack nicht schwer, dem Schlafenden die Kehle durchzuschneiden, in den folgenden Tagen den Kadaver, wie er den Leib zur eigenen Beruhigung nannte, in handliche Stücke zu zerlegen und diese in der Tiefkühltruhe einzufrieren. Einfach aus Neugier auf den Geschmack briet er in gesundem Bio-Rapsöl ein Teil des Oberschenkels in der Pfanne und verspeiste das Stück zusammen mit zwei Klössen, mit Sauerkraut und einem guten Müller-Thurgau aus dem Schwabenland. Nach der Mahlzeit dann ein Spaziergang im nahegelegenen Stadtpark. Durch die noch kahlen Bäume leuchtete die Sonne und Löbsack genoss den beginnenden Frühling.

 

 

                                                                                    I,0

 

Im Himmel

 

 Am Tag seiner Auferstehung, im Grunde den ganzen Tag über, war Löbsack bester Laune. Er hatte guten Grund dazu. Von wem erst Blumen, Kränze, die ganze schwere Erde fortgeschafft ist, die auf ihm lastet, wessen Sarg geöffnet ist, wer hinaus aus dem Loch und ganz hoch hinauf fahren darf, der darf sich wahrlich freuen. Bei Löbsack kam hinzu das Überraschungsmoment. Als eingefleischter Atheist hatte er mit so einem Neuanfang nie und nimmer gerechnet. Etwas von seiner Skepsis war ihm zwar geblieben. Denn nachdem er sich ein wenig umgeschaut und einige alte Bekannte, aber nicht seine große Liebe gefunden hatte, keimten in ihm Zweifel, dass dies der Himmel sei, dessen Existenz er früher in manchem Streitgespräch so heftig abgestritten hatte. Auch dass unter den Bekannten einer seiner Kollegen war, den er auf den Tod nicht hatte ausstehen können, war kein gutes Zeichen. Als ihm jedoch einer der Engel sein altes Fahrrad mit den Worten überreichte, es solle ihm hier an Nichts fehlen, da murmelte Löbsack leise: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, war sichs zufrieden´mit der neuen Lage, schwang sich auf den Drahtesel und begann eine Erkundungstour dessen, was er früher verächtlich das Nirgendwo oder das postmortale Niemandsland genannt hatte. Vielleicht würde er doch noch seine Liebste finden. Als würde er auf unsichtbaren Wolken gleiten, gings jetzt im Hasenpanier durch die himmlischen Gefilde. Gärten mit Brunnen und Bächen, mit Orchideen, selbst mit seinen geliebten Zucchinis bepflanzt, wechselten sich ab mit wunderschönen Häusern und Plätzen. Wer hätte sich das gedacht! So also sah das Gottesreich aus, von dem die Christen sprachen! Niemand lag auf der Straße. Nicht ein einziger Bettler. Alle nur in feinstem Zwirn. So ganz anders als die letzten Tage unten auf der Erde. Löbsack war einer jener Verstorbenen gewesen, die ihren ersten Impftermin nicht mehr erreichten, als die 7-Tage-Inzidenz auf 2367 hochgeschnellt war und die Krankenhäuser allen Neuzugängen ihre Tore verschlossen hatten. Wie in den Zeiten der Pest, hatte Löbsack auf der Straße gelegen ohne jemanden, der ihm die Hand gehalten und ihm danach die Augen verschlossen hätte. So ganz anders hier. Und so beseligt glitt er auf dem himmlischen Fahrradweg dahin und endlich, Löbsack jauchzte in die höchsten Himmel, ja da, ganz weit zugleich ganz deutlich, ihre Gestalt, da stand sie, wartete auf ihn, seine große Liebe.    

 

1.1

 Der letzte Hieb war einer zu viel. Ich weiß, ich weiß. Dass ein Pferd eine Pressekonferenz gibt, ist ungewöhnlich. Und ungewöhnlich ist auch, dass sie an diesem Ort stattfindet, unter dem Säuleneingang des Gerichtsgebäudes. Aber angesichts der Vorverurteilungen in der Presse und weil der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden wird, nutze ich die letzten Minuten in Freiheit dazu, Ihnen meine Sicht der Dinge in aller Kürze mitzuteilen. Es dürfte nämlich in diesem Land etliche Zweibeiner geben, die meine Tat wenn schon nicht billigen, so doch wenigstens geistig nachvollziehen und mir mildernde Umstände zubilligen werden – so sie denn über die Umstände, die zu ihr geführt haben, richtig informiert sind. Der Tod des Jockey lag nicht in meiner Absicht. Nie und nimmer. Aber er hat ihn tausendmal verdient. Ich habe nachgezählt: In den letzten beiden Jahren hat er mich 356 mal beschimpft, mir 577 mal die Sporen die Flanke getrieben und mich 1136 mal mit der Peitsche geschlagen. Ich frage Sie: Was hätten Sie getan? Ich bin ein Flucht- kein Raubtier, Sie wissen das. Und bis zur Selbstverleugnung habe ich die Misshandlungen durch diesen kleinen Herrn auf meinem Rücken ertragen. Immer in der Hoffnung, dass Pferderennen vom Gesetzgeber endlich untersagt werden. Schließlich sind seit Jahren Fuchsjagden streng verboten und selbst für die Frösche hat das Überqueren von Straßen durch den Bau von bequemen Tunneln seinen Horror verloren. Ich jedoch kann nicht mit einem Freispruch rechnen… Ja ja, Herr Gerichtsdiener, ich komme schon… Ob mich ein Todesurteil erwartet und man mich am Strick aufhängt wie manch unschuldiges Schwein in früheren Zeiten – das hängt auch von der öffentlichen Meinung ab, von Ihnen, meine Damen und Herren von der Presse... Nein, Sie brauchen mir keine Fußfesseln anlegen… Bitte! Vergessen Sie nicht! Ich habe mich freiwillig gestellt.

1.2

He, Löbsack, alter Knabe Puddingbauch  

 

Null Falten im Gesicht

 

Du Teddybär du großes Kind

 

Du Fahrradschlauch


Du endlos Leiche

 

Du doppel ach was zehnfach

 

dicker Ast so dick wie hoch

 

du achtzig Jahr und krumm

 

da ab ins Grab

 

Und aus dem Grab


nach Würmermahlzeit


Kopfsalat und Babyspeck

 

Kartoffelspeise


wieder da

 

und ohne Falten im Gesicht

 

strahlst wolkenlos

 

ganz oben ganz hoch oben

 

1.3

 

Löbsack gab nicht auf. Wo stand geschrieben, musst bleiben der Stein auf immer und ewig? Funken der Erinnerung, seltene, an Wärme drin und draußen Schnee und Dunkelheit. Und die Mutter und der Herd. Krambambuli. Ein Rudel Hunde auf dem harten Deckel. Große, kleine, schwarze und gefleckte. Auf dem zweiten Deckel und dem dritten. Geschenk vom Vater, der von weit her zurück. Ganz schwach. Und weit. Wie Sterne, Millionen Lichtjahre, schon wie das Nichts.

 

1.4

Schluss mit Rums

 

komm her du klums

 

haste schums

 

biste wums

 

wums und weg

 

hau die zeck

 

da der Speck

 

ist kein Dreck

 

ist gut und leck

 

rübe reck

 

 meine je

 

die die zeh

 

tut so weh

 

früh im klee

 

schön das Reh

 

gib jetzt ruh

 

lass die Kuh


Augen zu

 

liebes Schaf


endlich Schlaf

 

 

I,5

 

Löbsack im Beichtstuhl: Ja, Vater. Ich bin ein undankbarer Mensch.

 

Wo zeigt sich das, mein Sohn?

 

Es ist mir erst gestern bewusst geworden, Vater. Bis dahin dachte ich immer, ich würde, wie soll ich sagen, ich habe eigentlich immer, also was die anderen taten, also in der Gruppe, was sie so geleistet haben, dass ich das, mir fehlt jetzt das Wort, dass ich das…

 

Anerkennung, ist es das, was du meinst?


Genau, das ist es. Was die anderen um mich herum so brachten, ich dachte immer, ich würde das anerkennen. Ich hab sie eigentlich immer gelobt. Zum Beispiel als Elise diesen Anfall bekommen hat.

 

Was für einen Anfall, mein Sohn?

 

Sie hat keine Luft mehr bekommen. Ganz plötzlich. Wir standen alle herum wie gelähmt, keiner wusste was tun. Nur einer hat gesagt: die atmet ja gar nicht mehr. Und wir standen da und haben nur genickt. Einer hat gesagt: Ich ruf mal 112 an. Ja, das fanden wir alle gut. Aber da stürzte Hilde plötzlich auf die Elise zu. Also die am Boden.

 

Kannst Du dich vielleicht kürzer fassen, mein Sohn. Auf den Bänken sitzen heute viele, die noch beichten wollen.

 

Entschuldigung, Vater. Ich wollte nur sagen. Hilde hat Elise wieder gesund gemacht. Sie hat sie umarmt und mit ihr das gemacht, wie nennt man das, ich hatte mal einen Kurs…


Mund zu Mund..

 

Atmung genau. Und so hat sie die Elise wieder. Die hat ein zwei mal geschnauft und war wieder gesund, auf einen Schlag. Mensch, hab ich zu Hilde gesagt, das hast du prima gemacht.

 

Mein lieber Sohn, dann hast du doch Anerkennung gezeigt.


Stimmt eigentlich. Aber hat mir nicht Demut gefehlt?

 

Wieso das denn. Du warst bloß einfach dumm.


Also das finde ich jetzt, wie soll ich sagen..

 

Mein lieber Sohn, du hättest doch statt rumzustehen, der Frau am Boden helfen können.

 

Stimmt eigentlich.


Also bist du nicht undankbar, sondern dumm gewesen.

 

Wenn Sie meinen, Vater.

 

Na schwamm drüber. Ich gebe dir mal als Aufgabe mit, am Tagesende dich an 3 Dinge zu erinnern, für die du dankbar sein kannst.

 

Danke Vater.

 

Siehst du, das war schon das erste der drei. Also nur noch zwei.

 

Zwei?

 

Mein lieber Sohn, geh jetzt von dannen, bete zwei Ave Maria und sei hinfort demütig dumm.


Jetzt versteh ich gar nichts mehr, Vater.

 

 

I,6

 

Löbsack wusste von einem Moment zum anderen: In Zukunft scheiss ich auf die Tradition. Gesagt getan. Er griff zum Hörer und wählte die Nummer Samatinas. Er wartete lange. Sie nahm den Hörer nicht ab. Schade, gerade mit ihr hätte ich gerne begonnen.  Andere Nummer. Wieder Fehlanzeige. Na schön. Ich machs auf der Straße. Löbsack zieht in aller Eile die Schuhe an, wirft den Mantel über, steht in Nullkommanix auf der Straße. Steht. Schaut nach links, schaut nach rechts. Wartet. Eine Minute. Noch eine. Da, dahinten, da kommt wer. Dem wird ich es zeigen. Löbsack macht sich auf, dem Mann entgegen, der kommt die Straße schnell herunter, immer. Ein junger Mann. Dem werd ich zeigen, was eine Revolution ist. Jetzt nur noch 10 Schritte. Löbsacks Herz fängt an zu rasen, der Mann sieht verdammt sportlich aus, ähnelt dem Täter aus dem Krimi gestern Abend. Ich sprech ihn besser nicht an. Und schon ist er vorbei. Löbsack erleichtert. Gut, muss ja nicht jeden anquatschen. Muss nicht  meiner eigenen Vorsätze Sklave sein. Dass ich auf die Tradition scheiß kann ich auch anders zeigen, in einer mehr passenden Gelegenheit. Zum Beispiel ich geh dorthin, wo Weihnachtsbäume verkauft werden und kauf keinen. Mit solchen Überlegungen geht Löbsack weiter, die Strasse entlang. Die nächste Person, die ihm begegnet, wohnt im selben Haus wie er. Mit der verderb ichs mir besser nicht. Geht freundlich grüßend an ihr vorbei. Zum zweiten Mal erleichtert. Aber er grübelt, grübelt. Kommt zum Ergebnis. Zurück in meine Wohnung!  Mit Traditionen brechen kann ich auch dort, das Geschirr waschen und nicht wie bislang zwei Wochen warten bis kein Teller, kein Glas mehr sauber ist, zum Beispiel. Aber während Löbsack schon das Wasser aufsetzt, fällt ihm die ideale Gelegenheit ein für seine Tat. Er stellt den Boiler ab und geht ins Bett. Und schläft. Wacht auf am nächsten Morgen. Es ist Sonntag. Löbsack sitzt zum ersten Mal seit Jahren in der Kirche der Gemeinde. Im Gottesdienst. Er wartet. Wartet. Da, der Segensspruch des Pfarrers: Gehet hin im Namen des Vaters…Da springt Löbsack auf. Und schreit gellend durch den Kirchenraum: Scheiße! Scheiße!

 

 

 1.7

 

Die Nase

 

Auf einmal war Löbsack nicht mehr allein so. Alle waren so. Alle hatten eine lange Nase. Und wenn ich sage lange Nase, dann meine ich lange Nase. Eine Nase von ungefähr 25 Zentimetern. Sie war Löbsacks Albtraum. Bisher. Seit Kindesbeinen. Es war am Tag nach Sylvester, Löbsack war acht Jahre alt, Beginn des neuen Jahres, da war es da, dieses Ding. Beim Zähneputzen, im Spiegel. Das erste Mal. Und war geblieben. Anfangs versuchte er es zu verstecken. Mit der Hand, mit dem Schulheft, mit dem breitkrämpigen Hut seines Vaters. Der glitt ihm über die Augen, stellte sich als unbrauchbares Verhütungsmittel heraus. Auch sonst, es war nicht leicht. Für Löbsack nicht, für die Familie nicht. Selbst seine Mutter, die den kleinen Löbsack über alles liebte, ihn hütete, wie ihren Augapfel liebte, ihn umsorgte von früh bis spät, der Vater sah nichts anders darin als Verzärteln, Herumschlarwänzeln, den Jungen für das Leben untüchtig zu machen, aber die Mutter, nein, sie ließ sich nicht abbringen durch solche Reden, jedoch wie gesagt, selbst der Mutter war Löbsacks Nase zu lang, entschieden zu lang. Mit der Schere ein Stück abzuschneiden kam für sie nicht in Frage, empört hatte sie auf Vaters Vorschlag reagiert, als der ihr in der Nacht, beide lagen schlaflos vor Sorgen in ihrem Ehebett, als der ihr das leise zärtlich vorschlug. Das kommt nicht in Frage. So ist unser Bub nun mal. Soll die Welt sich dran gewöhnen. Sie hat sich nie daran gewöhnt. Wo immer Löbsack auftauchte, erregte er Aufsehen und, nicht schwer sich vorzustellen, Schmunzeln, Heiterkeit, Grinsen, hämische Rufe. In der Schule zuerst, dann später, es hörte nie auf, nie, aber die Schule war Löbsacks großer Alptraum gewesen. Wenn die anderen seiner Klasse um die Mädchen standen, schlich er sich, der kleine Schlappschwanz unser Held, schlich sich von dannen, verkroch sich und weinte bitterlich, würde es im Märchen heißen, aber es war kein Märchen, es war bitterste Realität. So, das ist die Ausgangslage. Nicht anders. So war es. Bis zu jenem Sommer und Löbsack 17 Jahre alt. An einem heißen Augusttag, er mit anderen in einer Jugendherberge sowas, ein Ausflug, irgendein Verein, Tauben oder Sportschießen ich weiß nicht mehr, alles hat mir Löbsack nicht erzählt, Schützenverein vielleicht, jedenfalls er lag mit einem Mädchen, ja er lag zum ersten Mal, nein er lag nicht, er streifte mit dem Mädchen, dem einzig weiblichen Lebewesen in diesem obskuren Verein, er streifte mit ihr durch hohes Gras, da geschah es, es war schon ein Wunder, dass sie sich mit ihm auf den Weg gemacht hatte, nach dem Mittagessen, auf einen Spaziergang, einen Spaziergang in der glühenden Sonne, sie hatte das vorgeschlagen, das allein schon ungeheuer für den jungen Mann. Sie streiften also durch das hohe Gras, da nahm sie seine Hand. Die wunderschöne Frau nahm seine Hand. Den Sturm beschreib einer, der darauf in Löbsack tobte. Sie, die Schönste, seine Hand, nicht die Nase, die hatte sie nicht, die überlange lange langen Nase hatte sie nicht gestört. Und als es zum Kuss kam, etwa eine viertel Stunde später, es kann auch eine halbe gewesen sein, sie waren an ein kleines Birkenwäldchen gelangt, sie hatten sich ins Gras gesetzt unter so ein Birkenbäumchen und über ihnen die flirrenden kleinen Blätter, durch die die Sonnenstrahlen und der weiße Stamm an dem sie lehnten und die andern weißen alle hinter ihnen, da küssten sie sich und die Nase störte das Mädchen nicht. Sie bog einfach den Kopf in einen rechten Winkel, bog ihn so, dass ihre eigene Nase, eine ganz gewöhnliche fünf Zentimeternase lotrecht zu seinem Gesicht, sie verstehen. Von da an war alles anders. Sein ganzes Leben. Von da an ging Löbsack leicht durchs Leben. Ich überspringe jetzt die vielen vielen Jahre, setz ein mit jenem ganz bestimmten Tag, Löbsack ein halbes Jahrhundert älter und längst nicht mehr mit jener Frau zusammen, die seine Ehefrau geworden, längst waren sie geschieden, leider, aber es war nicht die Nase, es gibt auch andere Gründe auseinanderzugehen, ich gehe nicht auf diese Gründe ein, hier fehlt der Platz. Auf jeden Fall: An jenem Tag war Löbsacks Glück schon lang zerronnen, sein Lebensgefühl gewissermaßen rückgebildet, wieder wars wie in der Schule. Die Jahre selbstverständlichen Lebens, die Jahre des Zusammenseins mit jener wunderschönen Frau, um die er beneidet worden war, jetzt beneidete ihn niemand mehr, im besten Fall ignoriert, meist begrinst, belacht, ab und an bemitleidet, die Blicke der Anderen waren sein täglich Brot, in ihren Augen spiegelt sich nur seine Missgeburt. Und er litt. Er litt und litt, es nahm keine Ende. Doch es nahm ein Ende. Es kam ein Frühjahr, in dem auf einmal, in dem zunächst nur einer, auf dem Bahnhof begegnete Löbsack, begegnete ihm ist falsch, Löbsack erstarrte. Vor ihm, bog ein Mann, ein etwa 50-jähriger Mann, bog ein auf die Rolltreppe, bot dabei sein Profil dar, Löbsack sah es, kein Zweifel: Dieser Mann hatte eine etwa 25 cm große Nase. Löbsack, nun ebenfalls auf der Rolltreppe, hinter dem Mann, mit ihm abwärts fahrend, zitterte am ganzen Leib. Und am Ende, als der Fremde abbog, wandte er sich ebenfalls in dessen Richtung, es war nicht seine, egal, er lief hinter ihm her, wollte ihn nicht verlieren und in einem geeigneten Augenblick setzte er an, ihn zu überholen. Und da, auf gleicher Höhe jetzt, sah er aus den Augenwinkeln auf den Mann und sah: Eine Nase wie er selbst sie trug. Der letzte Zweifel weg. Und sogleich nahm Löbsack ebenfalls wahr die anderen Reisenden um sie herum, wie sie schnell wegsahen, wie sie stehen blieben, wie sie starrten, auf sie beide starrten, wie sie kicherten. Löbsack blieb stehen. Ließ den anderen verschwinden in der Menge. Blieb stehen. Dieser Tag brachte für ihn die Wende. Denn noch am selben Tag, abends, die Kunden im Geschäft, die wie er sich eine Rübe zogen aus dem Gemüsestand und in den Einkaufskorb hinein, kicherten nicht mehr. Und in der U-Bahn am nächten morgen starrte ihn niemand nicht an. Sie hatten alle eine lange Nase. Und, was soll ich sagen. Löbsack Leben wurde schön. Er war nicht mehr allein, war nicht mehr einsam. Selbst die Ansagerin der Nachrichtensendung, alle, alle hatten diese lange, diese 25 cm lange Nase. Löbsack fühlte deutlich: Ein neuer, ein herrlicher Lebensabschnitt hatte begonnen. Wie damals, in dem Birkenwäldchen.

 

1.8

 

 Löbsacks Lebensthema: Er selbst. Höchstselbst. Er. Niemand sonst. Nichts anderes. Nur er. Früher nicht. Da war Lebensthema: Sie. Sie, nichts sonst. Sie und keine andere. Sie, nichts anderes. Sie nach der er sich verzehrt, sie vor deren Fenster er in der Nacht, unter deren Fenster in der Nacht, zu deren hell erleuchtetem Fenster hoch, schaut hoch, hört hoch, weil dort, hinter hellem Fenster, weil oben: Musik, weil oben: Paradies. Schaut von unten hoch. Oben alles, unten  nichts. Nur Schmerz. Nur Dunkelheit. Unten nur Sehnsucht. Löbsacks Lebensthema früher: Sie, nur sie. Immer nur sie. Dann, nach Jahren, viele Jahre später, einiges war passiert, geliebt worden, verlassen worden, selber verlassen, wieder verlassen, noch mal worden, noch mal selber, Lebensthema mal die mal die. Thema nicht sie allein, Thema mal die mal jene. Lange Jahre. Bis alt. Bis knapp vor Ende. Löbsack heute: Ich. Lebensthema: Ich selbst. Nur ich. So dumm war Löbsack nicht, dass ihm das nicht selber auffiel: Ich. Auffiel eines Tages: Immer Ich. Späte Erkenntnis, Altersentdeckung. Bis dahin nicht gewusst? Lief unten ab? Unterm Tisch? Bis eines Tages auf dem Tisch? Eines Tages, spät, aber doch: auf dem Tisch. Lebensthema Löbsacks: Er selbst. Unangenehm. Passte nicht ins Bild, nicht ins Bild von sich: Ich, der anderen einschenkt, auf dem Tisch, selbstlos, ohne Selbst, nur auf andere Acht, gibt, milde, tätig, Kümmerer, rechtschaffen. Gut. Schöne Titel dachte Löbsack. Aus der Vergangenheit. Damals liebten. Wenn ich, nicht zurück, wenn ich und ich nicht, wenn sie nur ihre Augen über mir. Aber die erste. Vielleicht war es auch anders, wie immer. Jetzt nichts mehr davon. nur noch die Dinge. Kein Gesicht. Nur Topf die Schüssel, Pfanne. Boiler. Ausschalten nicht vergessen. Gießen nein, künstlich die Blumen, Mohnblumen, vorm Fenster. Hundert Spiegel. Tausend Ordner. Zwanzig große Uhren. Tausend tausend nie gelesene Bücher. Papier gestapelt, meterhoch. In der Helle der Nacht die Schreibmaschine. Letzte Funken in die Tasten. Und die Spüle. Und Knarzen der Dielen, wo früher Worte Flüstern. Also. Komm Tod! Den lang verstorbenen hinaustragen in den schwarzen Wagen. Noch einmal ihre Stimme. Ruf  von jenseits des Gartens. Name. Ihr grauer Mantel. Umarmung. Die Nacht.

 

 

                                                                                   I,9

 

Löbsack war alt geworden, aber unzufrieden mit seinem Leben. Hatte er doch im Alter von fünf Jahren aus Anlass der Fahrt einer Autokolonne mit dem Bundespräsidenten durch das Dorf seine Mutter gefragt: Bin ich jetzt berühmt? Er war es nicht geworden. Umso mehr elektrisierte ihn also ein Artikel in der gerade erschienenen Ausgabe der von ihm abonnierten monatlichen Kunstzeitschrift. Der Text trug die Überschrift: Auch Du kannst es. In einer geradezu suggestiven Weise führte der Autor aus, wie leicht es sei, Aufmerksamkeit auf dem Kunstmarkt zu erhalten, vorausgesetzt man beachtet ein paar Regeln. Schon nach dem ersten Absatz schlug Löbsacks Herz schneller. Und als er am Ende des Artikels angekommen war, wusste er: die Ratschläge waren für ihn geschrieben. Wir überschlagen jetzt ein paar Jahre und schauen uns lediglich an, was am Ende aus Löbsacks Wunsch geworden war. Berichten also nicht im Einzelnen und im Detail sondern nur summarisch, welche Kunstwerke durch Löbsacks jetzt ungebremsten Schaffensdrang das Licht der Welt erblickten. Da war als erstes ein gigantisches, genau 978 Meter hohes Ei, das der Künstler inmitten von Singapur errichtet hatte, in den Farben bemalt wie wir es vom Osterfest her kennen. Da war eine in tiefem Schwarz bemalte Hängebrücke zwischen Dover und Calais, die zu errichten ihm nach langer interner Diskussion ein Strukturfonds der EU ermöglichte –  zum Erstaunen der breiten Öffentlichkeit, die nach dem Brexit so ein Vorhaben für undenkbar gehalten hatte. Zur Abwechslung versuchte sich Löbsack an der kleinen Form und stellte im neu gegründeten Museum Dohas  – quasi als sensationelles Ausstellungstück –  in einer Glasvitrine ein Stück Popel von Helmut Kohl aus. Leicht nachvollziehen, dass das nicht nur eine heftige Kontroverse in der internationalen Kunstszene sondern auch ein höchst unerfreuliches diplomatisches Nachspiel zwischen dem arabischen Staat und der Bundesrepublik mit sich brachte. Inzwischen war Löbsack dort, wo er hinwollte: Keineswegs nur die Fachpresse – die ganze Welt kannte ihn. Ein letztes Projekt konnte er selbst nicht mehr erleben. Es war eine Performance. In der großen Kunsthalle am Gendarmenmarkt war eine sensationelle Aktion angekündigt und durchgeführt worden. Löbsack schoss sich mit einer Smith Wesson und mit direkter Todesfolge in den Kopf. Mit dieser Aktion gelang ihm sein größter Triumpf. 

 

 

                                                                                   I,10

                                                    

Hallo, wer bist denn du? Fragte Löbsack den Fliegenfänger. Worauf dieser antwortete: "Na das sieht doch jedes Kind. Aber kannst Du mir mal sagen, wie Du Dich hier in die Küche verirrt hast? Du stehst doch sonst im Klo rum."
"Und eine Klobürste darf nicht mal ein bisschen herumwandern, sich in der Wohnung umschauen? Was hast Du nur für altmodische Ansichten."

"Ich seh schon, mit dir ist schlecht Fliegen essen."

Eine Weile herrschte Funkstillle zwischen den beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten. Und während die Klobürste sich ein wenig umsah, vom Herd zur Spüle und von da zum Eisschrank stolzierte, schaukelte der Fliegenfänger leise in dem durch das geöffnete Fenster in die Küche hereinwehenden Wind. Nach einer Weile überwand der von der Lampe herunterhängende lange, gelbliche und klebrige, Streifen jedoch seinen Unmut, räusperte sich und sagte:

"Sag mal, mein Brauner, wie hast Du denn das geschafft, von deinem ewigen Platz neben der Kloschüssel wegzukommen? Hast du dazu keine Erlaubnis einholen müssen?"

"Du bist ziemlich naiv", antwortete die Klobürste, in einem recht arroganten Tonfall. "Ich frag doch niemanden, wenn ich mich auf einem Spaziergang begeben will. Das wär ja noch schöner. Systemrelevante wie ich spazieren herum, wann immer es ihnen passtt." Der Fliegenfängerstreifen war beeindruckt. Und nach einer Weile - die Bürste hatte sich mittlerweile aufs Fensterbrett geschwungen, um die würzige Luft ief einzuatmen, die durch den nahe am Haus stehenden Kastanienbaum strich - überwog die Neugier des von der Lampe Baumelnden den Ärger über die Arroganz der Bürste.

"Und du kannst auch fliegen?"

"Ja du nicht", antwortete diese, "du hängst ja fest."

"Dann hol mich doch herunter, Ich hab gesehen, du kannst springen." Der Streifen war dabei, seine gewohnte Klebrigkeit zu überwinden.

"Und wozu soll ich mir die Mühe machen?" Kam´s vom Fenstersims her.

"Wir könnten uns ein bisschen im Kiez umsehen."

"Du hast se ja nicht mehr alle. Wenn hier jemand im Kiez herumspaziert, dann bin ich das. Und ich schlepp doch nicht so einen Friedhof mit mir um."

"Schade." Resignierend verdrehte sich der gelbe Streifen noch mehr um sich in sich, als er es eh schon war. Als die Klobürste das sah, regte sich in ihr Mitleid. Zu viel Scheiße hatte sie bereits miterleben müssen, zu viel in den Orkus wandern sehen, als dass nicht in ihr mit der Zeit Empathie gewachsen wäre mit den vielen Abgeschriebenen, Weggespülten, Vergessenen.

"Na schön", sagte sie also, sprang vom Fenstersims hoch, flog durch die Küche und riss dabei mit einem kühnen Dreh den Fliegenfängerstreifen mitsamt hunderten von toten Tieren auf ihm von der Lampe. Die Landung der beiden auf dem Boden war nicht das Problem. Aber da die Bürste durch die Drehung mit dem klebrigen Streifen nun umwickelt war, bedurfte es erheblicher Anstrengung, sich vom Boden aufzurichten.

"So, das hätten wir," sagte die Bürste. "Los geht’s." Sich festzuhalten musste sie dem langen Streifen nicht erst sagen. Hinaus gings, am Baum vorbei, übers Haus, auf die Straße und dann im Sausewind durch den Kiez. Wobei die Klobürste dem Fliegenfänger alle schönen Kneipen zeigte, in denen sie schon früher einmal sauber gemacht hatte. Auch den Fliegen übrigens gefiel die Reise. Auferstanden von den Toten genossen Sie den herrlichen Tag.